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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin
Autoren: Boris Akunin
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von den drei Grundinstinkten, dem Nahrungs-, dem Selbsterhaltungs- und dem Fortpflanzungstrieb, die Poesie sich auf den dritten und unwichtigsten kapriziert hat. Gibt es auch nur ein einziges geniales Gedicht, in dem Hunger oder Angst besungen würden? Nein. Und das, obwohl es sich bei einem leeren Magen oder Todesangst doch um Gefühle handelt, die sehr viel stärker sind als das Liebessehnen. Was ist das schon, die Liebe? (An dieser Stelle schüttelte der Korrespondent wütend den Kopf.) Er selbst hatte momentan nichts dergleichen, seine Liebe lag seit fünfhundertsiebzehn Tagen auf dem Wagankowo-Friedhof, das machte nichts, das Leben ging weiter. Sogar entschieden besser als vorher. Wenn seine Liebe lebte, hätte sich ihm das GROSSE GEHEIMNIS nie offenbart. Er wäre immer noch strohdumm, würde sich die populäre Fernsehsendung »Glücksrad« angucken und die Beete in seinem Garten umgraben. Und würde dann wie ein blinder Hornochse das Zeitliche segnen, ohne den WAHREN WEG gefunden zu haben.
    Von einem anderen Plakat, das nicht Werbezwecken diente, sondern nur einfach so, zur Hebung der Laune, dahing, sandte ein Mädchen in U-Bahn-Uniform dem Korrespondenten eine Kusshand zu. Unter dem Mädchen stand »Gute Fahrt«. Er verbeugte sich höflich und sagte »Danke«.
    Er sah ein Plakat mit der Aufforderung, sein Geld den Filialen der Spar- und Kreditgenossenschaft »Hauptmann Kopejkin« anzuvertrauen, und wollte schon sein Notizbuch zücken, um die Filiale als nächsten Kandidaten vorzumerken. Doch da stach ihm eine Ordnungswidrigkeit ins Auge: Vor ihm stand neben einem stark geschminkten Mädchen ein Bursche und versperrte die linke Spur. Der Korrespondent stieg ein paar Stufen hinauf, packte den Übeltäter an der Schulter und sagte:
    »Rechts stehen, links gehen.«
    Der Übeltäter wollte den Mund aufmachen, wahrscheinlich, um eine patzige Antwort zu geben, aber nachdem er aufmerksam in die strengen, klaren Augen des Korrespondenten geblickt und die breiten Schultern bemerkt hatte (ein klares Indiz für morgendliches Joggen und Stemmen von Hanteln), machte er Platz.
    Der Korrespondent konnte nun nicht links stehen bleiben, sondern musste weitergehen, obwohl es bis zum oberen Ende der Rolltreppe noch ganz schön weit war. Na, macht nichts, das trainiert die Muskeln.
    Jetzt stand niemand mehr auf der linken Seite, aber während er hochfuhr, schaffte er es, dem Shampoo-Plakat, das aufforderte: »Sagen Sie Nein zu Ihren Schuppen«, »Nein« zu sagen, und die Tante, die eine Anstecknadel hatte, auf der stand: »Wenn du wissen willst, wie du abnehmen kannst, frag mich, wie«, »Wie?« zu fragen.
    »Was?«, sagte die Tante verwundert, fing sich dann aber und fragte lächelnd: »Sie wollen abnehmen?«
    »Nein«, antwortete er. »Ich habe schon abgenommen. Früher hatte ich einen Bauch, aber jetzt, sehen Sie das?« Er schlug sich das Jackett enger um, damit sie sähe, was für eine hervorragende Figur er hatte.
    »Warum fragen Sie denn dann, wie Sie abnehmen können?«, wunderte sich die Tante noch mehr.
    »Ich habe Sie nicht gefragt, wie ich abnehmen kann. Ich habe nur › Wie ‹ gefragt. Schämen Sie sich denn nicht, die Leute zu betrügen und aus ihrer Vertrauensseligkeit Profit zu schlagen? Um abzunehmen, muss man wenig essen, da hilft sonst nichts. Ich habe aufgehört zu essen und zweiunddreißig Kilo abgenommen.«
    Die Schwindlerin blickte ängstlich um sich und jammerte:
    »Was wollen Sie überhaupt von mir? Wer sind Sie?«
    »Ein Korrespondent«, antwortete er und strahlte, weil ihm der Klang dieses Wortes Freude machte.
    »Wie? Was?«, fragte die Tante irritiert.
    »Sie möchten wissen, Korrespondent von was oder wem?«, fragte er höflich zurück. »Korrespondent der › Prawda ‹ , das heißt, der Wahrheit. Also, ich wünsche Ihnen alles Gute. Und denken Sie darüber nach, ob Sie richtig leben.«
    Er lüftete mit zwei Fingern seinen imaginären Hut und schritt von der flach werdenden Stufe der Rolltreppe auf den grauen Boden der Eingangshalle.
    »So. Wo ist der Ausgang Uliza Soljanka? Ah, da!«
    In der Anzeige war nur eine Telefonnummer genannt gewesen, unter der man dem Korrespondenten eine Unzahl völlig überflüssiger und entbehrlicher Fragen gestellt hatte, aber als professioneller Journalist wusste er, wie man sich durchsetzt, und hatte nicht lockergelassen, bis er die Adresse in Erfahrung gebracht hatte.
    Der Korrespondent holte das zweimal gefaltete Blatt der Wochenzeitung »Eross« aus der Tasche und
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