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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin
Autoren: Boris Akunin
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beschäftigten diese Märchen seine Phantasie entschieden mehr als alle wissenschaftlich belegten Fakten.
    Ob sich das Schicksal des Semjonow-Sergeanten mit dem der Großfürstin kreuzen, ob Daniel die Möglichkeit erhalten würde, Katharina der Großen einen geheimen Dienst zu erweisen, der vielleicht den Gang der russischen Geschichte ändern würde, das war der Scheideweg, an den Nicholas Fandorin gelangt war, als sich auf einmal die Tür seines Arbeitszimmers öffnete und ein geduckter Mann in einem schlabberigen Anzug aus einem längst vergessenen Kunststoff (hieß das Zeug nicht »Cremplin«?), mit ausgestopften Schultern und breitem spitzem Revers, kurz: ein Gespenst aus den siebziger Jahren, auf der Schwelle stand.
    »Wollen Sie mich sprechen?«, fragte Fandorin wie ein Idiot (na klar, wen sollte er denn sonst sprechen wollen?), und wie ein schamhafter Schüler drehte er den Monitor so, dass der Mann Daniel (Hinteransicht) und Katharina (Vorderansicht) nicht sehen konnte.
    Er musste aus dem achtzehnten Jahrhundert ins einundzwanzigste zurückkehren.
    Nachdem seine Frau ihm zum Geburtstag die ganzseitige Anzeige in ihrer Zeitung geschenkt hatte, strömten haufenweise Besucher in das Office »des Landes der Räte«. Zwar waren es größtenteils »Erossianer«; so nannten sich die treuen Leser des schlüpfrigen oder, wie man jetzt sagt, speziellen Magazins »Eross«. Vor allem Sexspezialisten interessierten sich für das Zauberland, für das man kein Visum braucht; sie dachten, Mister N. Fandorin eröffne ihnen irgendwelche nie gekannten Fleischesfreuden. Diese Art von Besuchern kam in der Regel nicht über das Vorzimmer hinaus – Valja ließ die nach sinnlichen Genüssen Lechzenden nicht vor. Das Unglück wollte es, dass der neue Typ von Besuchern ganz nach Valjas Herzen war, und einige Vertreter auch ihrem Geschmack entsprachen – dieser Wirrkopf, der in der Firma die Funktion einer Sekretärin und Assistentin erfüllte, kokettierte wild mit ihnen und vereinbarte gelegentlich sogar ein Rendezvous. Nicholas machte sich schon manchmal Sorgen, ob man ihn nicht der Kuppelei bezichtigen könne.
    Es hatte zwei Besucher einer anderen Kategorie gegeben, erst ein Mann und dann eine Frau. Beide waren finster und deuteten ihr Anliegen nur an. Da er von einem Ausweg aus jeder Situation gesprochen hatte, dachten sie, es handele sich um die Reklame einer Killeragentur, und wollten einen Auftrag vergeben.
    Den Mann, der einen unehrlichen Geschäftspartner beseitigen wollte, konnte Nicki zur Vernunft bringen – er riet ihm, es dem Dieb mit gleicher Münze heimzuzahlen, und schlug ihm sogar geistesgegenwärtig eine witzige Operation unter dem Decknamen »Vergeltung« vor. Der Kunde ging beflügelt von dannen und stellte bei Erfolg ein großzügiges Honorar in Aussicht.
    Die Auftraggeberin, die nach dem Blut ihres weibertollen Ehemanns dürstete, war schwerer zu bremsen. Fandorin hielt ihr einen langen Vortrag über die Pathologie und Anatomie der ehelichen Untreue. Er sagte ihr, schuld sei nicht der, der untreu ist, sondern der, dem man untreu ist. Die Menschen heiraten, um ihren geheimen Hunger zu stillen. »Wenn der Gatte außerhalb seinen Spaß sucht«, erklärte Nicholas, »so ist das ein Zeichen dafür, dass Sie seinen Hunger nicht stillen. Den Metabolismus einer Liebesbeziehung kann man nicht prognostizieren: Sie sind vielleicht zu Ihrem Partner lieb und großzügig, er aber braucht eine böse und geizige Frau. Sie geben ihm Zuckerbrot, wo sich doch sein ganzes Wesen nach der Peitsche sehnt. Oder umgekehrt. Wenn sich ein Mensch von einer Affäre in die andere stürzt, so heißt das, sein innerer Hunger ist sehr groß und ein einziger Partner nicht imstande, diesen Armen satt zu kriegen. Don Juan ist ein höchst unglückliches Wesen, ein emotionaler Krüppel. Sein Los ist es, ständig Nahrung zu schlucken, aber nie satt zu werden.«
    Er legte sich eine ganze Stunde lang ins Zeug. Die betrogene Ehefrau hörte sich schweigend die Predigt an, bedankte sich und ging; ihre blutrünstige Absicht hatte sie offenbar keineswegs aufgegeben.
    Altyn hatte natürlich sein Bestes gewollt. Er mochte sich gar nicht vorstellen, was die ganzseitige Anzeige in der Zeitung mit einer Auflage von drei Millionen gekostet haben könnte. Das heißt, als Chefredakteurin hatte Altyn natürlich keine Kopeke bezahlt – sie hatte sozusagen ihre dienstliche Stellung missbraucht (kurz vor Erscheinen der Ausgabe war eine Seite, die von dem
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