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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin
Autoren: Boris Akunin
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dass alle gleich aussehen sollen, wie die Soldaten von Gatschina. Kein Tyrann oder Magier ist imstande, die Gesellschaft zu etwas zu zwingen. Es ist eine Illusion zu meinen, ein außerordentlich willensstarker Regent könne ein ganzes Land gegen dessen Willen und Wunsch umkrempeln. Er bringt das nur dann fertig, wenn die aktive Fraktion, von der wir beide schon sprachen, diese Änderungen auch wirklich will. Ein weiser Herrscher kennt dieses Gesetz. Maslow ist zwar klug, aber nicht weise. Und der Thronfolger erst recht nicht. Staatliche Weisheit besteht nicht darin, Dmitri, dass . . .«
    »Samson«, korrigierte ihn Vondorin junior.
    »Staatliche Weisheit, mein Sohn, besteht nicht darin, dass man gegen den Wind segelt, sondern darin, dass man das Segel im richtigen Moment in den Wind hält. Im Unterschied zu seinem Vater ist Seine Durchlaucht der Enkel das Kind einer neuen Zeit und neuer Bestrebungen. Er wird früher oder später Zar. Egal wie sich Maslow und Metastasio abstrampeln und was für Ränke sie schmieden, weil sie meinen, sie könnten den Lauf der Geschichte ändern, aber . . .«
    Klingelingeling, hörte man von vorne silbernen Glockenklang, der mit jeder Sekunde näher kam.
    Der Troika stürmte auf dem weißen Weg eine von sechs Schimmeln gezogene weiße Kutsche auf Schlittenkufen entgegen. Man hätte meinen können, die Schneekönigin persönlich käme angefahren, um ihre Besitztümer zu inspizieren.
    »Weicht zur Seite aus, mon père«, wurde der Redner von Samson unterbrochen, der nicht wusste, wie er den neu erworbenen Vater auf Russisch anreden sollte; das Wort »Papa« brachte er nicht über die Lippen. »Die rasen wie die Verrückten. Sie könnten uns umwerfen.«
    Vondorin zog mit einem Ruck an den Zügeln und lenkte das Mittelpferd an den Wegrand.
    Aber auch die wunderbare Kutsche blieb stehen.
    Der Kutscher rief vom hohen Bock:
    »He, Kamerad, wo ist hier die Abzweigung zum Dorf Prost? Sind wir schon zu weit gefahren?«
    Eine Frau in Zobelmütze streckte das Gesicht aus dem Fenster und protestierte:
    »Nicht Prost, sondern Trost, du Dummkopf!«
    Daniel stieß einen seltsamen Laut aus; es war nicht zu unterscheiden, ob er seufzte oder schluchzte. Samson dagegen schrie aus vollem Hals:
    »Pawlina!«
    Was danach kam, ähnelte in gewisser Weise der berühmten antiken Marmorskulptur mit der Darstellung Laokoons und seiner schlangenumwundenen Söhne, denn in dem Gewirr der Umarmungen, der auf- und abschnellenden Hände und der im raschen Wechsel sich küssenden Köpfe war es nicht ganz einfach zu entscheiden, welcher Körperteil wem gehörte. Was den Lärm betraf, so hätte diese Szene es durchaus mit dem Finale des Stücks »Triumph der Tugend« aufnehmen können, das der verstorbene Zögling Mithridates im Eremitagetheater gesehen hatte: Wie in diesem Stück brachen alle laut in Begeisterung aus, weinten und dankten mal Gott, mal dem Verstand.
    Samson kreischte einfach auf, ohne sich überhaupt Mühe zu geben, etwas Verständliches zu sagen.
    Daniel redete Unsinn:
    »Ein Zeichen des Himmels . . . Noch ein Mal, nur ein einziges Mal. . . Danke, Verstand! Ach, und jetzt sofort sterben . . . Welches Glück! Welches Unglück!«
    Nur Pawlina redete keinen Unsinn, aber die beiden Männer hinderten sie, wie sie konnten, mal musste sie den alten küssen, mal den jungen.
    »Ich habe die halbe Nacht wach gelegen, an Einschlafen war nicht zu denken . . . Mir wurde klar, ich bringe es nicht fertig! Das ist zwar Sünde, aber ich bringe es einfach nicht fertig. Da nehme ich mir lieber einen Strick . . . Ich rannte zu Euch, Daniel Ilarionowitsch, aber Ihr wart nicht da! Die Diener sagten, Ihr wäret schon am Vorabend abgereist, in einer Troika mit irgendwelchen Polizeibütteln. Ich erriet, dass Ihr nach Trost gefahren wart, wohin denn sonst? Ich befahl anzuspannen! Ich habe unterwegs alles bedacht und alles entschieden! Ich hatte nur Angst, dass ich Euch nicht finde. Gott sei Dank, dass ich Euch gefunden habe! Was hat uns eigentlich solche Angst eingejagt? Wer? Platon Surow oder sein windiger italienischer Kompagnon? Das ist doch Unsinn, viel Lärm um nichts. Sie sind doch nur in Petersburg allmächtig, aber Gott sei Dank ist unser Staat groß. Je weiter entfernt von den Palästen, desto freier lebt es sich. Lasst uns wegfahren, Daniel, weit weg. Ich habe eine Manufaktur, die liegt hinter dem Ural, ich habe sie von meinem Mann geerbt. Zweitausend Werst, wenn nicht mehr vom Winterpalais entfernt. Da kriegt uns
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