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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin
Autoren: Boris Akunin
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Mir wurde schon in meiner Jugend, als ich in der Folterkammer arbeitete, speiübel davon. Kommt, ich lege ihn auf Euren Schlitten. Ich habe hier unten noch Bast liegen und Kordel. Wenn ich durch ein Dorf komme, nehme ich mir von irgendeinem Holzstoß Scheite, wickele sie ein, und alles ist in Ordnung.« Rykalow fuhr los zu seinem Kellermeister. Mit zitternden Händen löste ich die Schnüre, und wen entdeckte ich in dem Sack? Dich! Überhaupt nicht verbrannt! Quicklebendig und unversehrt. Du hast dagelegen wie Dornröschen und nach einem Schlafmittel gerochen. Das ist alles, was ich zu erzählen habe.«
    »Und wohin fahren wir?«, fragte Mithridates, richtete sich ein wenig auf und schaute in die Gegend, die einigermaßen nichtssagend war: Wald, Feld, in der Ferne ein Dörfchen.
    »Das ist doch jetzt ganz egal«, sagte Daniel schicksalsergeben. »Ich bin ein entlaufener Häftling. Eigentlich hatte ich vor, in Moskau vorbeizufahren, nur um meinen Verbrechen nicht noch das Gemeinste hinzuzufügen: den Diebstahl. Ich wollte das Staatseigentum« – er deutete auf die Pferde – »bei irgendeinem Polizeirevier lassen und wäre dann ganz frei. Jetzt bin ich ein Flüchtling, ein Vogelfreier. Und du, mein Lieber, bist wer weiß wer. Eine Person ohne Namen, die ohne Erlaubnis der Kirche und der Obrigkeit existiert.«
    »Bin ich denn nicht mehr Dmitri Karpow?«
    »Nein. Der Kavallerie-Gardewachtmeister, den du soeben erwähntest, ist gestorben und im Kloster Neu-Jerusalem beerdigt. Das ist besser so und zwar für alle und in erster Linie für ihn selbst.«
    »Und wer bin ich jetzt?«, fragte Mitja, fassungslos, dass er kein Mitja mehr, sondern eine namenlose Person war.
    Vondorin antwortete nicht sofort, und als er zur Rede ansetzte, sprach er anders als sonst: langsam und stockend.
    »Darüber habe ich nachgedacht, als du dich unter der Wirkung der Kalkdämpfe befandest. Möchtest. . . möchtest du mein Sohn sein? Du bist mir seelenverwandt, das ist mehr als Blutsverwandtschaft. Vielleicht hat dich die Höhere Vernunft für meinen Samson geschickt? Der war zwar zwei Jahre älter, aber das ist ja kein so großer Unterschied . . . Ein Totenschein wurde nicht ausgestellt, so dass er im Gegensatz zu Dmitri Karpow für den Staat lebendig ist. Willst du Samson Danilowitsch Vondorin sein? Immerhin ist er adelig und ein freier Mann. Wenn du einverstanden bist, gehe ich zur Polizei und stelle mich. Oder kaufe mich von dem geschlagenen Hauptmann Sobakin los, Tscherwonzen habe ich ja noch genug. Und dann richten wir beide uns ein Leben zu zweit ein, irgendwo an einem abgeschiedenen Ort, wo wir niemand brauchen. Besitz habe ich nicht, aber der Verstand wird es geben, dass wir nicht Hungers sterben, ich bin ja Arzt . . .«
    Und er verstummte. Er blickte seinen Reisegefährten nicht an.
    Es schien, als zöge er sogar den Kopf ein, weil er Angst vor der Antwort hatte.
    Mitja schwieg ebenfalls. Er dachte an seinen Vater und zuckte zusammen. Und seine Mutter? Maslow hatte Recht, sie würde nicht lange brauchen, um darüber hinwegzukommen. Und sein Bruder? Der war doch nur froh . . .
    Er setzte sich neben Daniel und umarmte ihn. In Gedanken buchstabierte er seinen neuen Namen: Samson Von-do-rin. Das klang nicht schlechter als Dmitri Karpow.
    Schweigend fuhren sie dem heller werdenden Tag entgegen.
    »Und die Kaiserin?«, fragte der Sohn. »Sie werden sie vergiften; wenn es nicht der eine tut, dann tut es der andere. Entweder mit schnell wirkendem oder mit langsamem Gift.«
    Der Vater nahm sich einen Strohhalm, steckte ihn in den Mund und kaute auf ihm herum. Er holte zu einer langen Antwort aus.
    »Hol sie der Teufel, die irdischen Herrscher. Sie sind alle aus demselben Holz geschnitzt, sollen sie sich doch gegenseitig umbringen. Unwahrscheinlich, dass der Thronfolger Zar wird. Das wäre eine historische Ungereimtheit, so etwas wird die Historie sich nicht gefallen lassen. Ich bin überzeugt davon, dass die Geschichte eine Richtung und einen Sinn hat. Manchmal gelingt es irgendwelchen Schlitzohren, ihren Lauf durch eine List zu verlangsamen oder ihren Fluss umzuleiten, aber nur vorübergehend. Wie ein Strom, der zum Meer will, macht die Geschichte eine Biegung in ihrem Flussbett und kehrt auf den vorgezeichneten Weg zurück. Angenommen, es gelingt Maslow, den Italiener auszutricksen und seine Puppe auf den Thron zu setzen. Sie wird sich nicht lange halten können und zusammen mit dem Puppenspieler stürzen. Es widerspricht der jetzigen Zeit,
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