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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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und dann tastend den Ausgang zu finden. Ich erspähte das Tageslicht, die Hoffnungder Straße und rannte hinaus an die frische Luft, die erneut durch meine Lungen strömte, mein Blut und meinen Mut aufpeitschte, mir Kraft gab. Ich sprintete los, schnurgeradeaus, wie ein Fliehender, blind für die Welt, überquerte die Kreuzungen, sprang auf die Bürgersteige, bis meine Brust brannte und mein gesamter Körper Feuer gefangen hatte.
    An diesem Abend kehrte ich erst spät nach Hause zurück. Kaum hatte ich einen Fuß auf die Veranda gesetzt, verrieten mich heulende Sirenen an das ganze Viertel. Anna saß im Salon und tat, als blätterte sie in einer Zeitschrift, deren Seiten sich wie die Blätter eines Ventilators drehten.
    »Könntest du Bescheid geben, wenn du zum Essen nicht nach Hause kommst.«
    »Es tut mir leid. Mir war nicht gut. Ich habe nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen ist.«
    »Dir war nicht gut?«
    »Wie in der SAQ, eine Panikattacke. Diesmal im Kino.«
    »Da siehst du doch, dass es mit dir aufwärtsgeht. Aber ich nehme an, dein Neurologe wird sagen, das sei alles völlig normal, was dir gerade widerfährt, du seist vollkommen in Form.«
    Ich ging hinauf ins obere Stockwerk, um zu duschen, vor allem jedoch, um meine Stigmata mit etwas Salbe einzureiben. Falls der Dermatologe recht behalten sollte, wären die Ausschläge in wenigen Tagen verschwunden. Als ich aus dem Bad kam, hielt mir Anna, die am Eingang meines Arbeitszimmers stand, ein Stück Papier hin und sagte:
    »Ich habe auf deinem Schreibtisch dieses Flugticket auf deinen Namen ausgestellt gefunden. Kannst du mir erklären, was das zu bedeuten hat?«
    »Wenn du das Ticket ›gefunden‹ hast, wie du sagst, weißt du so viel wie ich.«
    »Du fliegst nach Dubai.«
    »In zwei Wochen.«
    »Darf man erfahren, was du dort treibst?«
    »Ich sehe mir den Aufzug eines achthundert Meter hohen Wolkenkratzers an. Ich hatte vor, mit dir darüber zu reden, es dir zu erklären, aber du warst schneller als ich, da du mein elektronisches Ticket bereits ›gefunden‹ hast.«
    In diesem Moment hatte ich den Eindruck, dass meine Frau aus Wolken fiel, die sehr viel höher waren als der Burj Khalifa, und ihr Sturz endlos lange dauerte. Sie betrat das Zimmer, knallte brutal die Tür hinter sich zu, um sie gleich darauf wieder aufzureißen.
    »Glaubst du nicht, es wäre besser, anstatt in Dubai Aufzüge besichtigen zu gehen – nein, ich glaube, ich träume –, dir einen Anwalt zu suchen und ernsthaft deinen Prozess vorzubereiten? Denn die Hersteller deiner tollen Aufzüge haben bestimmt schon zwei oder drei Spezialisten auf deinen Fall angesetzt.«
    »Ich habe beschlossen, nicht zu prozessieren. Ich möchte eine gütliche Einigung.«
    »Das hat doch weder Hand noch Fuß!«
    »Woher weißt du, was hier Hand oder Fuß hat? Steckst du in mir drin? In meinem Kopf, ja? Empfindest du, was ich empfinde? Hast du gesehen, was ich gesehen habe? Warst du in der Kabine? Was mischst du dich überhaupt ein? Kümmere dich um deinen dämlichen Schotten und lass mich in Ruhe! Ich fliege nach Dubai, und du mischst dich da nicht ein. Und noch weniger in die Art und Weise, wie ich meine Angelegenheitenregele. Ich fliege nach Dubai, und es wird keinen Prozess geben. Bei Bell kannst du tun und lassen, was du willst; du bestimmst, du entscheidest, das ist deine Angelegenheit. Aber du solltest auch wissen, dass deine Sprachbefehle hier nicht funktionieren. Ich höre sie nicht! Nichts! Gib mir jetzt dieses Ticket!«
    Ich riss ihr das Stück Papier aus der Hand. Sie sah mich leicht verängstigt an. Ihr Mund versuchte einen Satz zu formen, aber ihr fehlten die meisten Worte. Ich schloss mich in mein Arbeitszimmer ein. Ich war genauso atemlos wie nach meinem Wettlauf durch die Straßen der Stadt. Meine Hände zitterten. Ich drückte die Urne an mich.
    Auf dem Bett ausgestreckt, mit weit geöffneten Augen, horchte ich auf die Geräusche draußen. Anna schlief. Anna schlief immer. Nichts konnte ihren Schlaf erschüttern. Nicht einmal die Erwähnung dieses geheimnisvollen Schotten, von dem sie nur annehmen konnte, dass er in meiner Vorstellung nur ein Wurzelspross ihres ontarischen Hengstes war. Was für ein Gesicht würde sie machen, wenn der Garten morgen mit toten Vögeln bedeckt wäre? Und auch das Dach, und die Straße? Ich würde ihr erklären, dass man die Leichen aufheben musste. In einen Handschuh schlüpfen und sie aufheben, sie in Plastiksäcke stecken musste. Wenn man uns Fragen
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