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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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Unsinn, Selbstmord. Wer hat dir dazu geraten?«
    »Ich.«
    »Ehrlich, Papa, langsam muss mal Schluss sein. Du bist im Begriff, eine Riesendummheit zu begehen. Mit deinen ständigen Angstattacken, deinen inkohärenten Entscheidungen, deiner sonderbaren Lebensweise bereitest du uns wirklich Kopfzerbrechen.«
    »Was heißt ›uns‹?«
    »Nicolas und mir. Ich habe dich auf laut gestellt, er kann dich hören. Und er teilt meine Ansicht. Das alles ist nicht normal. Mama macht sich Sorgen. Sie ist wirklich beunruhigt. Du könntest auch mal an sie denken, sie ein bisschen schonen, meinst du nicht? Du musst unbedingt einen anderen Arzt aufsuchen, und vorher unterschreibst du nichts, keine Einigung, keinen Kompromiss, nichts. Als Profis können Nicolas und ich dir versichern, dass es in deinem Fall der reinste Wahnsinn wäre, keine gerichtlichen Schritte zu unternehmen. Du würdest zweifellos gewinnen. Riesige Entschädigungssummen erhalten. Das ist hundertprozentig sicher. Duwirst doch wohl nicht vergessen haben, dass du bei dem Unfall immerhin deine Tochter verloren hast.«
    Kleine Ratte. Das sagte ich, bevor ich auflegte. Ratte. Da ich laut gestellt war, würde es auch die andere Eihälfte hören. Wie konnte dieses kleine Aas es wagen? Ich war außer mir. Ich verwandelte mich wieder in einen Akita. Einen Kampfhund. Wie anderntags bei Bréguet. Hätten meine Söhne vor mir gestanden, ich hätte sie zerfleischt. Mit den eigenen Zähnen. Ich hätte sie in Stücke gerissen. Stattdessen nahm ich meinen Teller Nudeln und schleuderte ihn mit lautem Gebrüll gegen die Küchenwand. Ich schnappte mir mein Jackett, warf einen Stuhl um und rief Anna zu: »Sag diesen beiden Huren, dass sie mich nie wieder ansprechen sollen. Hörst du, nie wieder!«
    Als ich aus dem Haus ging, stieß ich einen wilden Schrei aus, der das Geheul der Sirenen auf der Stelle verstummen ließ.
    Ich verbrachte einen Großteil der Nacht in einem Café in der Nähe des Busbahnhofs, wobei ich meine Kaffeetasse unentwegt in den Händen drehte, ebenso regelmäßig wie sich Charisteas an seinem Uhrarmband zu schaffen machte. Die Stunden schienen Tage zu dauern. Müde Menschen traten ein, andere gingen hinaus, einige schliefen auf den Bänken ein. Ich versuchte nachzudenken, zu begreifen, was hier vor sich ging, aber mein Geist konnte nichts mehr festhalten, alles entglitt ihm.
    Erst am Morgen kehrte ich nach Hause zurück, Anna war bereits zur Arbeit aufgebrochen. Ich duschte und stellte bei der Gelegenheit fest, dass der rote Ausschlag um meine Handgelenke nachgelassen hatte und an meinem Hals fast verschwunden war. Dann ging ich ins obere Stockwerk, holtedas Flugticket aus meiner Tasche und legte es deutlich sichtbar auf meinen Schreibtisch. Dubai. Es muss sein …
    Mechanisch las ich ein paar unwichtige Notizen über die Fahrstühle der neuesten Generation, die die Personenbeförderung in großen Wolkenkratzern optimierten. Man brauchte auf einem Bildschirm nur das Stockwerk auszuwählen, in das man fahren wollte, und schon spuckte einem das Gedächtnis des Maschinenwerks die Nummer des Fahrstuhls aus, der einen am schnellsten dorthin befördern würde. Es gab Leute, die ein Vermögen für Aufzüge ausgaben. Andere verbrachten ihr Leben damit, sie zu entwerfen. Und ich widmete meine Freizeit der Lektüre von Stücklisten und Berichten über sie. Beispielsweise diesem hier. Man hat festgestellt, dass die Fahrgäste einer Kabine häufig den Platz wechseln, je nachdem wer ein- oder aussteigt. Und zwar mit dem einzigen Ziel, etwas mehr Raum zu ergattern, ihre »Komfortsphäre« zu optimieren. Wir Armen. Die ganze Zeit über sind wir damit beschäftigt, unsichtbare Berechnungen anzustellen, winzige Manipulationen vorzunehmen. Heimlich die Raumverteilung zu prüfen. Zu analysieren, ob sich das Umstellen lohnt. Auf Raumzugewinne zu spekulieren. So sind wir, gefügig und heimtückisch, geizig und manipulativ, in den Aufzügen wie im Leben.
    Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Auf den Seiten der Zeitschriften schienen die Buchstaben sich aufzulösen und vor meinen Augen zu schmelzen. Diese mittelmäßige Frau und ihre beiden armseligen Klone raubten mir den Schlaf und traktierten meine Hirnwindungen. Schließlich nahm ich zwei starke Schlafmittel und legte mich hin. Kurz darauf übermannte mich der Schlaf – trotz der Mittagssonne, die aufs Parkett schien.

ZEHN
    Ich schlief den ganzen Tag und die folgende Nacht. Ohne Unterbrechung. Und auch ohne mich um die
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