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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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Kellers zu scheren, diese blutsverwandte Herde, bei der vermutlich jedes Mitglied permanent an dem anderen herumschnüffelte, um sich seiner eigenen Existenz zu versichern. Als ich erwachte, war das Haus leer; es regnete. Draußen hörte ich das typische Zischen der Autoreifen auf der nassen Fahrbahn. Das Geräusch war nie gleich. Es variierte je nach Stärke des Regengusses. Eine klangliche Unebenheit, die die Stille der Einsamkeit durchbrach. Ich verbrachte den Tag damit, auf meinem Schreibtisch etwas Ordnung zu schaffen, aufzuräumen und meine Archive in mehrere Schnellhefter zu sortieren. Meine Recherchen waren fast abgeschlossen. Ich brauchte nur noch meine Reise nach Arabien anzutreten, und dann wäre die Akte geschlossen. In der Zwischenzeit würde ich ein Verzeichnis aller Einzelteile der verunfallten Kabine erstellen. Ich verfügte über die komplette Stückliste des Herstellers sowie über die Kennnummer des Aufzugmodells. Die Einzelteile aufzulisten war nur eine Frage der Konzentration und der Geduld. Danach würde ich mit ruhigem Geist abfliegen können.
    Als Anna von Bell zurückkehrte, hatte ich das Bedürfnis,das Haus zu verlassen und ihr die Möbel und die vier Wände zu überlassen. Als sie mich gehen sah, sagte sie:
    »Isst du heute nicht hier?«
    »Nein.«
    »Ich muss mit dir reden.«
    »Ein andermal.«
    Die Luft war klar und erfrischend, vollgesogen mit Feuchtigkeit. Man spürte, dass sie im Laufe des Tages durch mehrere Regengüsse vom Schmutz der Stadt befreit worden war. Ich nahm eine eilige Mahlzeit in einem portugiesischen Restaurant in der Nähe unseres Hauses ein. Die Atmosphäre dort war familiär, die Küche einfach, aber würzig, mit einer deutlichen Vorliebe für Knoblauch. Danach ging ich einen Moment die Sherbrooke Est entlang, nur um die Nacht einzusaugen. Um frei zu atmen. Ruhe zu haben. Mir fehlte die Gesellschaft der Hunde. Hier hätte ich sie ihr Geschäft machen lassen, wo sie wollten, und nichts aufgehoben. Gar nichts. Hier hätte ich abgewartet, bis mir die Meister und Anhänger der Vertikalität, die das Übereinanderschichten und Zusammenpferchen der Menschen besangen und beweihräucherten, die Leviten lasen wegen meiner ungehobelten Art und meiner Verstöße gegen die Regeln des Zusammenlebens.
    Zusammenleben. Es war schon nicht möglich, mit der eigenen Familie ein normales Leben zu führen. Das Leben war ein Individualsport. Man konnte zwar zusammen in einem Fahrstuhl sterben, aber nicht darin leben. Den anderen zu ertragen hieß immer, einen Angriff auf die eigene Intimsphäre hinzunehmen. Sein Territorium zu überwachen. Seinen Raum ständig neu zu berechnen. Im Übrigen machten die Hunde ihre Haufen. Und das war alles.
    Vom Bürgersteig aus sah man nur eins: Die Zimmer des Hauses waren alle erleuchtet. Es sah aus, als würde Anna einen Empfang geben. Als ich zur Eingangstür hereinkam, unterhielt sich ein kleiner Zirkel gemütlich im Salon. Dort stand die Mutter, die mutmaßliche Organisatorin dieses Zusammentreffens. Die monozygoten Zwillinge hatten eilig den Atlantik überquert. Und ein recht eleganter Mann, dessen Alter ich schwer schätzen konnte und den ich nicht kannte, war ebenfalls zu Gast. Ich hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging, außer, dass all diese Menschen den langen Weg ganz offensichtlich meinetwegen auf sich genommen hatten und mich hier erwarteten.
    »Was macht ihr hier?«
    »Wir sind gekommen, um dich zu sehen, Papa. Um zu hören, wie es dir geht. Wir haben uns Sorgen gemacht. Das habe ich dir doch letztens schon gesagt.«
    »Ihr seid ins Flugzeug gestiegen, nur um mich zu sehen? Und wer ist das hier?«
    »Doktor Laville. Ein großer Fachmann. Er ist der Freund eines Kollegen von Mama und war so nett, heute Abend vorbeizukommen, um dich zu sehen.«
    »Fachmann wofür?«
    »Er arbeitet in der Klinik Louis-Hippolyte-Lafontaine. Er leitet die psychiatrische Abteilung.«
    »Los, raus. Ihr verlasst alle sofort dieses Haus.«
    »Ich möchte, dass du dich beruhigst, Papa. Du bist zurzeit nicht in deinem Normalzustand. Das geht schon eine Weile so, und es wird immer schlimmer. Nur merkst du das nicht. Es ist nicht mehr auszuhalten. Du wirst dich morgen im Krankenhaus begutachten lassen. Einfach nur begutachten lassen.«
    »Verpisst euch alle. Raus mit euch! Und du, kleine Knalltüte, wenn du auch nur noch ein einziges Wort mit mir sprichst, wenn du auch nur ein einziges weiteres Wort an mich richtest, reiße ich dir den Kopf ab, dir und deinem
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