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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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wie ein Toyotahändler, der die zu zahlende Summe inklusive Nebenkosten, Steuern und optionaler Ausstattung ausrechnet, abzüglich jener kleinen Geschäftsgeste, die den Zweck hat, das Ausmaß der Katastrophe zu mildern.
    »Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein, Monsieur Sneijder. Ich werde Sie noch einige Zeit hierbehalten. Abgesehen davon, dass die Antworten, die Sie mir gegeben haben, die Angaben Ihrer Familie bestätigen, zeugen sie meines Erachtens auch von großer psychischer Verwirrung. Folglich erkläre ich Sie für ›unzurechnungsfähig‹ und werde beim Obersten Gericht von Quebec einen Antrag auf Zwangseinweisung stellen. Sollte dem Antrag Folge geleistet werden, was eigentlich immer der Fall ist, werde ich Sie medizinisch behandeln. Hinsichtlich Ihrer materiellen Güter wird Ihre Familie, also Ihre Ehefrau und Ihre Kinder, Ihr Vermögen und Ihre Interessen verwalten. Das Gesetz sieht vor, dass eine Unzurechnungsfähigkeit für mindestens drei Jahre ausgesprochen wird. Und es gibt keine Möglichkeit der Berufung.«
    »Nicht einmal nach französischem Recht?«
    »Da Sie Doppelstaatler sind, habe ich diese Frage der Rechtsabteilung der Klinik vorgelegt. Doch hat man mir erklärt, dass Sie den Regeln und Gesetzen dieser Provinz unterliegen, weil Sie in Quebec leben und arbeiten, in Quebec erkrankt und hier ins Krankenhaus gekommen sind.«
    »Das ist ein unwiderlegbares Argument. Und meine Frauund meine Söhne waren Ihnen sicher eine große Hilfe bei der Erstellung des Fragebogens, nicht wahr?«
    »Ich muss zugeben, dass sie äußerst kooperativ waren.«

3. Juli 2011,
    Klinik Louis-Hippolyte-Lafontaine
    Ich verbürge mich für die absolute Richtigkeit des gesamten Berichts. Ich habe ihn von Anfang bis Ende selbst verfasst: Zu meinem Unglück ist mein Gedächtnis eine unfehlbare Maschine. Ich vergesse nichts, ich archiviere alles. Nichts in mir wird gelöscht. Meine Erinnerungen sind noch genauso blutig, als hätte man eben erst das Messer in sie gebohrt.
    Ich beende gerade meinen dritten Monat in der Psychiatrie. Ich habe nichts Besonderes zu erzählen. Mir ist schnell klar geworden, wie das psychiatrische System funktioniert und wie man sich darin verhalten muss. Genau wie in einem Fahrstuhl. Immer unsichtbare Berechnungen anstellen, um seine Intimsphäre zu vergrößern. Lauern. Wachsam sein. Sich anpassen. Beweglich bleiben. Niemals eine Position aufgeben, wenn man sich nicht sicher ist, eine bessere zu ergattern. Und vor allem, sich wie die anderen verhalten. Sich mit dem Weggesperrtsein so gut es geht arrangieren. Versuchen, einen guten Eindruck zu machen. Ein vorbildlicher Patient zu sein. Das ist die einzige Chance, hier aufrecht und bei halbwegs klarem Verstand wieder herauszukommen. Oft denke ich an den Tag, an dem ich zu mir nach Hause zurückkehren und in die Zwangsjacke meiner Unmündigkeit eingesperrt leben werde. Lebendig eingemauert. Nicht in der Lage, auch nur diegeringste Entscheidung selbst zu treffen. Jedes Mal gezwungen, die Einwilligung meiner Frau zu erhalten, die Imprimatur der Kellers. Und im Falle einer Weigerung, einer Provokation, ja keine Gefühle zeigen, ruhig, ungerührt bleiben, sonst geht es schnurstracks zurück in die Klinik, zum Fragebogen von Laville, mit einem Antrag vor Gericht und drei weiteren demütigenden Jahren. Anfangs hatte ich noch darum gebeten, mir einige Exemplare der Elevator World bestellen zu dürfen. Doch dies wurde mir verweigert, mit der Begründung, dass diese Art von Lektüre »einen Rückfall in impulsive Verhaltensweisen befördern« könne. Etwa zur selben Zeit habe ich auch gefordert, wenigstens einen Teil der Asche meiner Tochter bei mir zu behalten. Dieses Ersuchen wurde ebenfalls abgelehnt: »Mit der derzeitigen Behandlung und dem Zustand des Patienten unkompatibel. Außerdem vom Reglement verboten.«
    Ich habe erfahren, dass die Zwillinge, nachdem sie sich mit Wagner-Leblond getroffen hatten, in meinem Namen eine Klage gegen Woodcock und Libralift angestrengt haben.
    Ich frage mich, ob der Schotte gelegentlich zu uns nach Hause kommt und ein wenig von dem »zertifizierten« Brathuhn isst. Ob er ins obere Stockwerk geht, in meinen Notizen blättert, die Urne öffnet.
    Einmal pro Woche treffe ich mich mit Laville für ein Gespräch unter vier Augen. Unsere Unterhaltungen haben kein Ziel, ich bemühe mich nur tunlichst darum, alles zu sagen, was er gern hören möchte. Für ihn bin ich »der Fall Sneijder«, der Typ vom Aufzug, ein Bekloppter unter
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