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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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stellte, antworten, dass sie vor Schreck gestorben seien. Eine Panikattacke am Himmel. Das ereignete sich meistens nachts. Besonders bei dieser gesellig lebenden Spezies. Das Wort gesellig betonen. Nicht vergessen, die roten Federn an den Gelenken der Flügel zu zeigen und den vielsagenden Namen des Rotschulterstärlings zu unterstreichen. Der starke Fischgeruch? Ja, den hatten wir bemerkt, natürlich, aber er kam nichtvon uns. Wir hatten nur tote Vögel, keine Fische. Was für ein Genuss wäre es, die Zwillinge anzurufen. Nur um ihnen zu sagen: Die Vögel sind gestorben und eure Mutter auch. Vor allem eure Mutter. Eure Mutter ganz besonders. Sie ist tot, ich sehe sie. Sie liegt neben mir. Sie sieht gut aus, aber sie ist tot. Sie sieht noch aus wie eure Mutter. Aber sie ist tot. Wie wollen wir es mit der Asche handhaben? Alles in eine Urne oder halbe halbe in zwei Gefäße? Ruft ihr den Schotten an oder ich? Man wird ihm sagen müssen, dass eure Mutter tot ist. Dass sie da liegt, tot. Es ist vielleicht ein bisschen kompliziert für euch, ihm so ganz unverhohlen zu sagen, dass er nicht mehr in sie hineingleiten kann. Söhnen fällt es schwer, solche Dinge zu sagen. Dass ihre Mutter tot und daher nicht mehr bumsbar ist. Man sollte auch dem Brathähnchenverkäufer Bescheid geben. Habe ich euch nie von meiner ersten Frau erzählt? Das war schon jemand. Nicht wie eure tote Mutter. Mit meiner ersten lebendigen Frau hatte ich eure Schwester. Erinnert ihr euch an eure Schwester? Sie hieß Marie. Sie hatte nichts mit eurer Mutter zu tun. Marie war meine Tochter. Sie hat euch eines Tages zu eurem Geburtstag geschrieben. Euch zwei kleinen monozygoten, aus dem gleichen Ei eurer toten Mutter entstandenen Ferkeln. Ihr erinnert euch vielleicht an den Brief eurer Schwester, ihr Kellerferkel? Wenn ich mich ein wenig wiederhole, dann nur, um ganz sicherzugehen, dass ihr mich auch wirklich versteht, dass jedes Wort bei euch angekommen ist. Eure tote Mutter, die euch lächerliche monozygote Zwillinge ausgetragen hat, hasste meine Tochter so sehr, dass sie mir verbot, sie mit ins Haus zu bringen. Nur mit der Asche meiner toten Tochter durfte ich leben. Ich hoffe, dass ich euch eines Tages eigenhändig beerdigen werde. Wie gern hätte ich eure Mutter umgebracht, wenn sie nicht bereits gestorben wäre.
    Ich träumte nicht. Ich dachte all diese Dinge. Sie entströmten mir ganz natürlich, sickerten wie glühende Lava, wie ein bitterböser Gallensaft aus mir heraus und legten sich über diese auseinandergerissene, entbeinte Familie. Der Tag brach an und das Licht fiel sanft ins Zimmer, als würde draußen jemand den Dimmer aufdrehen.
    In der Küche begegneten Anna und ich uns mehrmals, wobei wir jedes Mal viel Geschick dabei bewiesen, uns im letzten Moment aus dem Weg zu gehen. Meine Handgelenke juckten genauso wie vorher. Dabei hatte ich seit zwei Tagen keinen Hund angefasst.
    Der Tag verging ohne besondere Vorkommnisse, und der Abend brach ebenso unauffällig und sanft herein. Anna kam mit einem Stapel Akten nach Hause, die sie auf den Esszimmertisch legte und bis zum Abendessen durchblätterte. Dann fragte sie mich, ob ich Lust auf Nudeln hätte. Ich bot an, welche zu kochen, doch sie bestand darauf, sich an den Herd zu stellen. So viel Aufmerksamkeit war verdächtig. Sie war eine Bellizistin, die nichts so sehr hasste wie Waffenstillstand oder Kapitulation.
    Das Telefon klingelte genau in dem Moment, da wir uns an den Tisch setzten. Es waren die Zwillinge, die sich nach mir erkundigten. Indem sie mir die Zubereitung des Pesto abgenommen hatte, wollte Anna also bloß meine Erreichbarkeit gewährleisten.
    »Hallo, Papa, hier ist Hugo.«
    »Geht es dir gut?«
    »Die Frage sollte man dir stellen. Mama hat uns erzählt, dass du eine weitere Angstattacke hattest.«
    »Sie ist ja wieder vorüber.«
    »Das sagst du so. Aber inzwischen ist es schon die zweite Attacke, das ist sehr ernst zu nehmen, du musst unbedingt jemanden deswegen aufsuchen. Es ist nicht normal, dass dein Neurologe diese Beschwerden auf die leichte Schulter nimmt. Du solltest wirklich zu jemand anderem gehen, glaub mir.«
    »Gut, das ist nett, aber ich weiß, was ich zu tun habe.«
    »Genau das glaube ich nicht. Und dann ist da noch etwas. Mama hat uns von deiner Absicht erzählt, im Zusammenhang mit deinem Unfall, keinen Prozess zu führen, sondern eine Einigung zu erzielen. Ich weiß nicht, ob du dir darüber im Klaren bist, aber das ist absurd. Juristisch gesehen ist das
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