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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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Albert Söhnleins Fratze, totenblass und hasserfüllt, das ist das Letzte, was der Lemming wahrnimmt. Dann fährt ihm der Schmerz in die Lenden.

25  
    Ein elektrischer Schlag. Er zuckt von der Mitte her bis in die Zehen- und Finger- und Haarspitzen, macht kehrt, als habe er sich verlaufen, und explodiert gleich noch einmal zwischen den Beinen. Der Lemming krümmt sich zusammen, sackt auf den Bretterboden. Hält sich mit einer Hand das Gemächt. Tastet mit der anderen nach Krotznigs Pistole.
    Aber Söhnlein ist schneller. Schon ist er über dem Lemming und reißt ihm mit ungeahnter Kraft den Arm aus der Tasche. Entwindet ihm die Waffe.
    «Verräter!», zischt Söhnlein. «Dreckiger Judas!»
    Es ist schon sonderbar, was einem so durch den Kopf gehen kann, bevor es eine Neun-Millimeter-Kugel tut. Er sollte sein Aftershave wechseln, denkt der Lemming, während ihm Söhnlein den Lauf der Pistole zwischen die Augen drückt. Und: Klara wird weinen …

    Klara wird nicht weinen. Nicht so bald …
    Noch ehe Söhnlein abdrücken kann, öffnet sich hinter seinem Rücken die Tür des Waggons. Die vertikale Rundfahrt ist zu Ende.
    «Söhnlein, du Sau.» David Neumann steht draußen auf der Plattform und wirkt erschreckend ruhig.
    Ohne die Waffe von der Stirn des Lemming zu nehmen, wendet sich Albert Söhnlein um. Er schlottert am ganzen Körper. Die fleischigen rosa Lippen schnappen nach Luft. Und wieder werden seine Augen feucht.
    «Neu … mann.»
    «Zeit, abzurechnen, Söhnlein. Findest du nicht? Zeit, Bilanz zu ziehen …»
    Bilanz , denkt der Lemming. Bilanz in fünf Minuten. Die Worte von Söhnleins Vater. Und: Nicht einmal deinem armen Bruder kannst du das Wasser reichen …
    «Geh weg, Neumann! Geh weg! Du bist tot! Ihr seid alle tot! Ihr Schweine! Ich wollte doch nur … Ich habe euch nichts getan! Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe! Warum verbündet ihr euch gegen mich?»
    Die Weiterfahrt des Riesenrades ist gestoppt. Vor dem Eingang hat sich bereits eine kleine Menschenmenge gesammelt und lauscht dem hysterischen Kreischen.
    «O ja, ich weiß genau, was ihr denkt! Dass ich besser nicht geboren wäre! Dass ich kein Recht zu leben habe! Ich seh es doch, ich seh’s an euren Blicken! Da versteht ihr euch, was! Da könnt ihr wieder zusammenhalten, ihr gemeinen, selbstgerechten Schweine! Ihr werdet nie begreifen, was tiefe Gefühle sind, nie! Aber ich! Und dafür hasst ihr mich! Geht doch! Geht doch und habt euren Spaß miteinander! Geht und fallt euch in die Arme und lacht euch tot über mich! Geht und … kopuliert euch fröhlich durch die Welt! Ihr Tiere! Tiere! Geht doch endlich weg! Alle! Lasst mich doch endlich, endlich in Ruhe!»
    Albert Söhnlein springt auf und richtet die Pistole auf David Neumann. Ein Raunen geht durch die Menge; die Leute weichen zurück.
    «Geh weg … schleich dich, du Judensau …»
    Dann rennt Söhnlein los.
    Kaum eine Schrecksekunde später steht auch der Lemming wieder auf den Beinen. Humpelt dem Flüchtenden nach. Nicht lange, und David Neumann taucht an seiner Seite auf. «Alles in Ordnung?»
    «Geht so … Nur meine Eier …»
    Aber Neumann ist bereits an ihm vorbeigezogen und lässt ihn bald weit hinter sich.
    Der Lemming schleppt sich stöhnend die Hauptallee entlang. Eine ältere Dame im Jogginganzug überholt ihn und wirft ihm vergnügte Blicke zu. Ihr Kichern verklingt.
    Langsam läuft der Lemming, doch er läuft. Wieder hört er Schritte näher kommen. Es sind die von Huber. «Herr Wallisch, um Gottes willen … Wie geht es Ihnen? Es tut mir so Leid, aber der Neumann … Er ist mir entwischt … war nicht zu halten … Ich habe gehört, was passiert ist … Wo sind die beiden jetzt?»
    Ein kurzes Nicken in Richtung Lusthaus und Freudenau.
    «Irgendwo da vorne … Wo ist der Breitner?»
    «Ich habe ihn bei seiner Schwester gelassen … Kommen Sie.»
    Huber hakt den Lemming unter und schleift ihn mit sich. Aus dem Auwald neben der Hauptallee ertönt das lustige Pfeifen der Liliputbahn.
    Fast achtzig Jahre lang gibt es sie schon, die Liliputbahn, dieses Kleinod des Wiener Schienenverkehrs; seit 1928 schnauft sie munter durch die Praterauen. Sie fährt an der Hauptstation hinter dem Riesenrad ab, rattert schräg zur Rotunde hinüber und taucht dort zwischen den Bäumen ein, um ihren Zielbahnhof beim Stadion anzusteuern. Hübsch und bunt sind ihre Wagenzüge, allerliebst ihre Zugmaschinen: Kunstvoll gestaltete Nachbildungen alter Dampf- und neuerer
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