Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
Vom Netzwerk:
Diesellokomotiven, messen sie kaum ein Drittel ihrer großen Geschwister. Das Tempo der Loks ist entsprechend. Gerade dreißig Kilometer pro Stunde können sie erreichen; sie begnügen sich mit fünfundzwanzig. Man könnte neben ihnen herlaufen, wenn man den Bäumen ausweicht … und wenn man keine geschwollenen Hoden hat.
    «Zeit sparen … Bahn fahren», ächzt der Lemming.
    «Ich glaube, nicht, Wallisch …», antwortet Huber. Er hat angehalten. Tritt an den Waldrand. Lauscht und späht ins Gebüsch.
    «Schauen Sie … da ist doch keine Haltestelle …» Farbenfroh schillert es durch die Zweige. Eine Garnitur der Liliputbahn. Sie bewegt sich nicht.
    Neben den Geleisen liegt Albert Söhnleins seltsam verkrümmter Torso in einer dunkelroten Lache. Wenige Meter entfernt hat sich sein Schädel einen Platz zwischen den Schienen gesucht. Söhnleins Augen stehen offen und starren hinauf zu den Baumkronen.
    Die wenigen erwachsenen Passagiere sind aus den Waggons gestiegen. Während sie ihren Kindern die Augen zuhalten, betrachten sie selbst voller Neugier die Szene. Nur der Zugführer hat seinen Sitz nicht verlassen. Wie ein riesiges Geschwür ragt sein Kopf aus der orangefarbenen Miniaturlokomotive.
    «Scheiß mi an», murmelt er in einem fort, «scheiß mi an … des gibt’s do net … des glaubt ma ka Mensch …» Huber tritt neben die Lok und rüttelt den Mann an der Schulter.
    «Sie! Sie da! Wachen S’ auf! Was ist denn geschehen?»
    «Scheiß mi an … I weiß jo a net! Aus die Büsch is er kummen, der Trottel, der depperte … rücklings is er außeg’stolpert und – platsch! – vor mein’ Harry purzelt … aus die Büsch … wie der Blitz … des kannst net derbremsen … Dann hat’s a Ruckerl geben, gell, Harry?»
    Zärtlich streichelt er den Lack der Lok.
    «G’spritzt hat’s … Mehr net. Mir san zwoa klein, aber oho! Fünf Tonnen Lebendgewicht, des halt ka Nacken net aus … Mei Harry entgleist net, gell, Harry? Braver Harry … Des glaubt ma ka Mensch … A Glück, dass nix passiert is …»
    Der Lemming hat genug gehört. Er wendet sich ab und geht langsam zurück durch das Unterholz.

    Albert Söhnlein ist tot. Ein angemessener Tod, wie der Lemming findet. Söhnlein hat ja das Kleine schon immer gemocht. Ein richtiger, ein ausgewachsener Eisenbahnzug, auf der Fahrt von Wien nach Paris oder Rom? Nein, das hätte nicht zu Bonsai-Söhnlein gepasst.
    Es musste schon die Schmalspurbahn sein. Irgendwo zwischen Rotunde und Stadion. Und sie ist nicht einmal aus den Schienen gesprungen …
    Ein Ästchen knackt und reißt den Lemming aus seinen Gedanken. Vor ihm steht David Neumann und streckt ihm die Hand entgegen. Ein kleiner, halb geöffneter Lederbeutel liegt darin.
    «Danke», sagt der Lemming. Er nimmt eine Kaffeebohne aus dem Beutel und beginnt zu kauen.
    «Was machen die Eier?»
    «Rührei …»
    «Du solltest … zu deiner Hausärztin gehen.»
    «Wenn sie mir einen Termin gibt … Sag, Neumann …»
    «Ja?»
    «Was war mit dem Söhnlein? Wie ist das passiert?»
    «Er hat den Kopf verloren …»
    «Das steht wohl außer Frage … Aber … Wieso … rücklings?»
    David Neumann blickt am Lemming vorbei. Macht einen tiefen Atemzug.
    «Weißt du, Wallisch … es ist Frühling. Riechst du das? Ich liebe ihn, den Frühling …»

    Sie spazieren die Hauptallee entlang. Eine ältere Dame im Jogginganzug nähert sich von hinten. Vorne kommt ihnen Klara Breitner entgegen.
     
    Lieber Freund,
     
    es freut mich zu hören, dass es dir wieder gut geht. Mit solchen Dingen ist nicht zu spaßen, und Klara hat ganz recht daran getan, dich zu einem richtigen Arzt zu schicken. Wer weiß, vielleicht liegt ihr ja auch ein klein wenig an deiner Zeugungsfähigkeit? Nein, entschuldige, ich will den Dingen nicht vorgreifen. Ich kann dir nur raten, ihr Zeit zu lassen, geduldig zu sein und nichts zu überstürzen. So ähnlich, wie ich es damals mit meiner Raffaella gemacht habe. Grüß Klara und Max von mir, auch Castro natürlich, und versprich, dass du Max nur ja sein Rauschgift nicht zurückgibst!
    Raffaella und der Kleinen geht es übrigens prächtig, und das hat einen Grund, an dem du nicht unbeteiligt bist. Wir haben uns nämlich entschieden. Wir wagen das große Abenteuer.
    Aber von Anfang an: Die Sache in Zürich hat reibungslos geklappt. Hubers Bekannter ist wirklich ein Meister seines Faches; weder an der Grenze noch auf der Bank gab es irgendwelche Schwierigkeiten. Ja, ich weiß, dass
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher