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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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so stolz und so gefasst. Aber ich habe ihm angesehen, wie sehr es ihn erschüttert hat. Das war ergreifend, ein tiefer, ein wahrer Moment. Seelenverwandtschaft …»
    Der Lemming spürt Übelkeit in sich aufsteigen. Er wendet sich von Söhnlein ab und tritt ans Fenster. Einmal mehr betrachtet er die Wienerstadt, die sich sonnig und hell vor ihm ausbreitet, und wieder versucht er, sein Grätzl, seine Gasse, sein Haus zu finden. Wie immer vergeblich. Sein Blick wandert entlang der Donau nach Nordwesten hin, wo sich in seltener Klarheit der Kahlenberg über dem Flachland erhebt.
    «Da drüben», sagt der Lemming, «am Kahlenberg … Wenn Sie den Grinzinger so … geliebt haben, warum musste er dann auch …»
    «Geliebt, geliebt …» Albert Söhnlein kichert. Aber dann erstarren seine Züge; ein Schatten senkt sich auf sein Gesicht.
    «Weil er mich verraten hat. Er hat unseren Pakt gebrochen.»
    «Erzählen Sie.»
    «Wir haben die Aktion Neumann nie wieder erwähnt. So soll es auch sein, wenn Männer ein Geheimnis teilen … Meine Noten waren gut wie immer, aber … der Doktor Grinzinger hat mir nicht mehr zugelächelt. Zur Sicherheit, verstehen Sie, wegen der Tarnung … Im Jahr darauf habe ich maturiert und zu studieren begonnen. Da haben wir uns aus den Augen verloren. Irgendwann bin ich ihm zufällig begegnet, aber er hat die Straßenseite gewechselt. Man muss vorsichtig sein …
    Heuer ist es dann passiert. Anfang Februar. Ein Geschäftsessen mit dem Pribil, dem schwammigen Homo. Plötzlich schaut mich der Pribil an und sagt: ‹Jetzt rat einmal, wer mir in Triest über den Weg gelaufen ist …› Ich habe es aus ihm herauskitzeln müssen, aber am Ende hat er es doch verraten. Neumann. David Neumann. Und dass er seinen Namen geändert hat. Der Pribil hat mir eine Visitenkarte von seinem Lokal in Triest gegeben …
    Zugegeben, das hat mich ziemlich nervös gemacht. Also … ich habe dem Peter Pribil gedroht, ihm alle Aufträge zu entziehen, wenn er irgendjemandem von Neumanns Existenz erzählt. Das war ein Fehler, ich weiß; das hat erst sein Misstrauen geweckt. Pribil, diese Quasselstrippe; mir war schon damals klar, dass ich ihn anders würde ruhig stellen müssen …
    Aber zunächst bin ich zum Doktor Grinzinger gegangen. Ich habe ihm die Visitenkarte gegeben und gemeint: ‹Der Neumann lebt. Wir müssen etwas unternehmen, Herr Doktor.›»
    Albert Söhnlein macht eine Pause. Schüttelt müde den Kopf. Seine Augen füllen sich mit Tränen.
    «Er hat auch einen Schrecken gehabt … Aber dann … ‹Geh mir aus der Sonne, Söhnlein›, hat er zu mir gesagt, ‹du ekelst mich an.› Er hat behauptet, dass wir niemals gemeinsame Sache … also, dass ich mir alles nur eingebildet habe … dass er damals nur deshalb nicht zur Polizei gegangen sei, weil es ein schlechtes Licht auf ihn als Lehrer geworfen hätte. ‹Nicht bei mir›, hat er gesagt, ‹nicht in meiner Klasse!› Und dass er es dafür sogar auf sich genommen habe, mein ‹widerliches komplizenhaftes Gehabe› ein weiteres Jahr zu ertragen … Er hat gesagt, dass er froh gewesen sei … froh gewesen sei …» Albert Söhnlein vergräbt das Gesicht in den Händen und versucht, von einem plötzlichen Weinkrampf geschüttelt, weiterzusprechen.
    «Dass er … dass er froh gewesen sei … als ich … aus der Schule war … Können Sie das verstehen? Nach allem, was wir zusammen … was wir durchgestanden haben? Können Sie? Dann erklären Sie es mir! Erklären Sie es mir!«
    Söhnlein ist aufgesprungen. Händeringend steht er vor dem Lemming.
    «Er hat gesagt, dass er nicht zögern wird, dem Neumann alles zu erzählen, falls der jemals bei ihm auftauchen sollte! Dass er ihm die Brille geben wird, als Beweis! Mit meinen Fingerabdrücken darauf! Das war so … so gemein! Er hat sich von mir abgekehrt, einfach so! Ein treuloser Hund, ein Verräter, schlimmer als mein … als der Vater!»
    «Ich verstehe, Herr Söhnlein … Ja, das muss sehr wehgetan haben …»
    Der Lemming ist zurückgewichen. Mit sanfter Stimme versucht er, Albert Söhnlein zu beruhigen. Seine rechte Hand steckt in der Jackentasche und umklammert Krotznigs Pistole.
    «Glauben Sie mir, ich verstehe Sie, Herr Söhnlein …»
    «Ehrlich? Ganz ehrlich? … Dann werden Sie auch verstehen, dass ich das einzig Mögliche unternommen habe … das einzig Richtige …»
    «Natürlich …»
    «Und ich habe es gut gemacht, oder? Elegant, intelligent, konsequent. Zwei Briefe,
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