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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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fein abgestimmt, psychologisch perfekt. Ein optimaler Treffpunkt, abgelegen und verlassen. Dann der Tag: fünfzehnter März … Und ein exakter Zeitplan. Alles sollte nach einer halben Stunde erledigt sein: den Doktor bestrafen, die Brille an mich nehmen und kurz vor halb drei die Polizei rufen, damit sie den David Neumann arretiert. Die Iden des März, seine alte Feindschaft mit dem Lehrer, die falsche Identität … Es wäre ein klarer Fall gewesen. Zwei Fliegen auf einen Schlag …»
    «Und ein Handy», ergänzt der Lemming, «das Sie extra für Grinzingers Leiche gekauft haben.»
    «Genau. Ich habe die Weckfunktion eingestellt, auf Viertel nach zwei, um den fingierten Notruf nicht zu vergessen … Ich habe alles bedacht; es war nicht mein Fehler, dass es nicht geklappt hat. Ich habe mir einen passenden Stein gesucht, mich im Gebüsch versteckt und auf den Doktor gewartet. Punkt zwei ist er gekommen, aber … er stand zu weit von mir entfernt. Also bin ich raus aus den Büschen und habe mich ganz leise angeschlichen, von hinten. Er hat mich erst im letzten Moment bemerkt, und da war plötzlich keine Rede mehr von ‹Geh mir aus der Sonne, Söhnlein› … Ganz große Augen hat er gemacht, der Doktor Grinzinger, und dann wollte er weglaufen, verstehen Sie? Er wollte vor mir, Albert Söhnlein, flüchten! Patsch! Es war eine saubere Sache …
    Aber von da an ist alles schief gegangen … Zuerst habe ich die Augengläser nicht gefunden. Weiß der Henker, warum er sie nicht bei sich hatte, wo er sie doch dem Neumann geben wollte. Und dann hat die Polizei auch noch den falschen Mann am Tatort gestellt. Ich habe es in der Zeitung gelesen … wahrscheinlich irgendein blöder Spaziergänger …»
    «Pech», sagt der Lemming. «Reines Pech. Nicht Ihre Schuld …»
    «Nicht wahr? Wenn mein Plan aufgegangen wäre, dann wäre jetzt alles gut … Der David Neumann säße hinter Gittern, und der Peter Pribil wäre noch am Leben; den hätte ich mir sparen können … Spaß war das keiner, den Pribil zu verarbeiten, die schwule Fettsau … Ich habe ihn in die Fleischerei bestellt und eingeschläfert. Valium ins Bier – die Dosis hätte für ein ganzes Regiment gereicht. Dann habe ich versucht, seinen Wanst auf den Fleischerhaken zu hieven, aber er war einfach zu schwer. Also musste ich ihn auf dem Boden tranchieren … Zehn Stunden Arbeit, die ganze Nacht durch … eine Schinderei, das können Sie mir glauben …»
    Die Fahrt neigt sich ihrem Ende zu. Albert Söhnlein sieht aus dem Fenster und verfällt in dumpfes Schweigen.
    «Was jetzt?», fragt der Lemming nach einer Weile. «Wie geht es weiter?»
    «Wir können es noch immer schaffen … gemeinsam. Die Brille haben wir ja nun. Wir müssen nur noch den Neumann erwischen … Also … Ich schlage vor, Sie geben mir das Päckchen und kommen gegen Abend in mein Büro. Dann denken wir uns etwas aus … Wir werden triumphieren … unschlagbar sein … ein richtiges, ein verschworenes Team … Vielleicht haben wir uns ja gefunden, endlich …»
    Der Lemming schluckt. Er spürt den Kloß in seinem Hals. Zugleich macht sich ein seltsam weiches Gefühl in seiner Magengrube breit. Er kämpft dagegen an, doch er wehrt sich vergeblich. Es ist das alte Gefühl. Das alte Mitleid …
    Nein, Lemming. Nicht schon wieder, Lemming. Erbarmen mit diesem hinterhältigen Mörder? Verständnis für diese Ausgeburt an schleimiger Verschlagenheit, für diesen Archetypus kriecherischer Niedertracht, für diesen Brechreiz auf zwei Beinen?
    Kaum einen Schritt entfernt steht abgewandt ein Mann und wartet auf Zuwendung. Es ist der kleinste Mann, dem der Lemming je begegnet ist. Albert Söhnlein, der Bonsais sammelt. Albert Söhnlein, der selbst ein verkrüppeltes Bäumchen ist. Vom Vater gezüchtet, vom Lehrer auf ewig verstümmelt. Die innere Einsamkeit hat ihn krank gemacht. Und klein. Unendlich klein …
    «Ich weiß», hört sich der Lemming jetzt sagen, «Sie haben … keine Schuld. Lassen Sie mich ehrlich sein, Herr Söhnlein. Was Sie brauchen, ist … Hilfe …»
    Ein Ruck geht durch Söhnlein. Er reißt die Arme hoch und klammert sich am Rahmen der Waggontür fest. Presst seine Nase gegen das Fensterglas wie ein Kind vor dem Spielzeugladen.
    «Das ist doch …», stößt er hervor. «Da draußen, das ist doch … der Neumann!»

    Selten, dass ein Mann etwas Schönes und Gutes vor Augen hat, ehe sich ein Knie in seine Hoden rammt. In diesem Fall ist das nicht anders.
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