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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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Angst, wenn alles gut geht, bist du am Wochenende wieder bei deiner Raffaella …»
     

24  
    Eigentlich ist es ein freundlicher Tag.
    Im Prater blühn wieder die Bäume, blau ist der Himmel, locker gesprenkelt mit flauschigen Wolkenschäfchen. Ein Duft von Mandeln und Zuckerwatte liegt in der Luft. Und das muntere Pfeifen der Liliputbahn.
    Ein freundlicher Tag. Ein Tag, der gute Miene macht … Der Lemming hat sich an Max Breitners Stelle auf die Parkbank gesetzt, nachdem Huber die beiden Schulfreunde in Gewahrsam genommen hat.
    «Sie kennen Ihre Rechte?»
    Armer Huber. Er ist wieder nicht dazu gekommen, seine juristische Kompetenz unter Beweis zu stellen.
    «Jetzt machen S’ doch die Pferde nicht scheu», ist ihm der Lemming ins Wort gefallen. «Die brauchen keine Rechte, Sie werden schon sehen, Huber … Halten S’ nur Abstand und passen S’ auf, dass die zwei keine Dummheiten machen.»

    Die Uhr zeigt Viertel elf. Von der Ausstellungsstraße her nähert sich eiligen Schrittes ein Mann. Klein, gedrungen, im sandfarbenen Anzug, ein bläuliches Seidentuch unter dem Hemdkragen. Albert Söhnlein verlangsamt sein Tempo, blickt sich um und fragt dann den Lemming, ohne ihn anzusehen: «Hier noch frei?»
    «Bitte.»
    Söhnlein nimmt Platz. Unschlüssig wirkt er und befangen, versucht, seine Unrast mit Geschäftigkeit zu kompensieren; er nestelt an seinem Anzug herum, wischt sich ein eingebildetes Stäubchen von der Schulter, räuspert sich, hüstelt, kratzt sich die Nase. Aber irgendwann hält er die Ungewissheit nicht mehr aus.
    «Ach, wie dumm … Jetzt habe ich doch glatt meine Brille vergessen …» Albert Söhnlein schüttelt den Kopf und fährt sich durchs schüttere, blonde Haar.
    Rührend, denkt der Lemming. Agentenfernkurs, Lektion Nummer eins: Wir identifizieren die Kontaktperson … Fast wäre er versucht, Söhnlein noch ein wenig zappeln zu lassen. Aber er entschließt sich, den Ball zurückzuspielen.
    «Ich hätte da eine übrig.»
    «Dann sind Sie …»
    «Der bin ich. Kommen Sie, wir genießen die schöne Aussicht. Ich lade Sie ein.»
    Söhnlein zaudert, doch er widerspricht dem Lemming nicht. Folgt ihm die Stufen zum Riesenrad hinauf und betritt den leeren Waggon. Die Türen schließen sich. Ein sanfter Ruck, die Fahrt beginnt.
    Eine Zeit lang herrscht Schweigen zwischen den Männern. Söhnlein blickt aus dem Fenster und heuchelt freundliches Interesse am Panorama. Der Lemming dagegen widmet sich seinem inneren Auge. Es ist ein altes Bild, das vor ihm auftaucht, ein alter Film: Der dritte Mann. Joseph Cotten und Orson Welles – Holly Martins, der Hobbydetektiv, und Harry Lime, der Mörder und Betrüger; die beiden standen genauso da und belauerten einander, während sie das Riesenrad hoch über die Schutthalden des zerbombten Nachkriegswien hob. Aber Harry Lime war zynisch und gewandt, ein kaltblütiger, verschlagener Fuchs. Harry Lime hatte Klasse. Albert Söhnlein hat keine.
    «Ja also», sagt er jetzt und lächelt den Lemming an. «So ein Glück, dass Sie das Packerl gefunden haben … Es muss mir aus der Tasche gerutscht sein, auf dem Weg zu … also, beim Spazierengehen. Mein Großvater hat sie schon getragen, nicht wahr, die Brille, ein Erbstück, wie gesagt … Und erst vor zwei Wochen, da habe ich sie von meinem Onkel …»
    «Von Ihrem Onkel also …», meint der Lemming. Er holt die Plastikhülle hervor und hält sie Söhnlein hin.
    «Ist sie das?»
    «Aber ja, ich glaube, schon! Geben Sie …»
    Der Lemming zieht die Hand zurück, und Söhnlein greift ins Leere.
    «Warum?», fragt der Lemming.
    «Was warum?»
    «Warum haben Sie Hans Neumann getötet?»
    Die Stille ist vollkommen, weil sie nicht perfekt ist. Sanft schaukelt der Waggon hin und her; der hölzerne Boden knarrt leise. Aus der Ferne hört man eine Leierkastenmelodie. Der Lemming kennt dieses Lied: Anton Karas hat es einst auf der Zither gespielt. Das Harry-Lime-Thema , die Musik aus dem Dritten Mann .
    Albert Söhnlein taumelt zurück. Schnappt tonlos nach Luft. Als er die Worte wiederfindet, kommen sie schrill und heiser aus seiner Kehle: «Was meinen Sie! Wer sind Sie überhaupt! Ich weiß nicht, was Sie meinen!»
    «Hans Neumann, Friedrich Grinzinger, Peter Pribil …» Söhnlein sinkt auf eine der Bänke an den Wänden der Gondel und vergräbt sein Gesicht in den Händen.
    «Warum?», fragt der Lemming noch einmal.
    Und dann hebt Albert Söhnlein den Kopf, und gleich dem Schmelzwasser eines Gebirgsfrühlings
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