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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Hinweis- und Verbotsschilder neben dem Kassenschalter wurden glattweg missachtet: Fahrtrichtung Uhrzeigersinn! oder Absichtliches Rammen verboten! Sie haben einander nichts geschenkt, sind johlend über den polierten Boden gefegt, nur um dem Nächstbesten eine Breitseite zu verpassen. Der Lemming erinnert sich an den alten Geruch, als er sich jetzt in einen feuerroten Scooter zwängt. Verschmorte Elektrik, geborstener Gummi. Kindheitsduft.
    Jetzt ist es etwas anderes, denkt er. Jetzt ist es Ernst. Aber … war es damals etwa nicht Ernst? Er steigt aufs Gaspedal und gleitet lautlos zu David Neumann hinüber.
    «Nicht weglaufen, Herr Diodato …»
    Der Mann im gelben Wagen zuckt zusammen, reißt den Kopf herum.
    «Was wollen Sie hier?»
    «Das Gleiche wie Sie …»
    «Es ist nicht mehr Ihre Angelegenheit … Es war nicht … Ihr Vater!»
    Der Lemming schweigt.
    «Warum Albert Söhnlein?», fragt er dann.
    «Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Aber …» Er wendet sich wieder dem Riesenrad zu.
    «Aber bald werd ich’s wissen. Und wenn es das Letzte ist …»
    «Haben Sie die Brille dabei?»
    «Ja. Ich habe dem Söhnlein erzählt, ich hätte sie in einem Umschlag irgendwo im Wald gefunden und sein Name sei darauf gestanden. Ich habe ihm natürlich nicht gesagt, wer ich bin. Der Scheißkerl ist so hysterisch, dass er alles geglaubt hat.»
    «Kommen Sie, wir kämpfen darum …»
    Ein langer, fragender Blick, dann zündet der Funke. «Ohne Anschnallen …»
    «Ohne Anschnallen.»
    David Neumann muss auch Autodrom gefahren sein, als Junge.
    Die große, quadratische Fläche liegt leer gefegt, während die Männer ihre Positionen einnehmen. Der Lemming steuert auf eine Ecke zu, dreht dann das Lenkrad, bis der Scooter in den Rückwärtsgang wechselt und sein Heck mit sanftem Ruck die Bande berührt. Auf der anderen Seite tut es ihm David Neumann gleich. Die alte Frau hinter der Kasse wirft ihnen unverständige Blicke zu.
    Die Regeln sind klar. Ein Nicken, und der Lemming gibt Gas.
    Langsam, denkt er noch. Viel langsamer als früher … Aber gegen die Mitte hin gewinnen die beiden Autos an Geschwindigkeit, und als sie mit einem dumpfen Knall zusammenprallen, hebt es den Lemming aus dem Sitz. «Ihr depperten Rotzbuben, ihr depperten! Kennt’s net lesen, ihr G’fraster!»
    Die Alte ist aus ihrem Kassenstand gestürzt und wirft die Arme in die Luft. Ihr Keifen ist Musik in den Ohren des Lemming. Es hat sich also doch nichts geändert. Alles ist noch wie damals …
    «Na, was ist?», ruft er Neumann zu. «Schon genug, lahmer Sack?»
    «Vergiss es, Hosenscheißer!»
    Neumann dreht bei und versucht nun, den Lemming gegen die unbesetzten Wagen an der Bande zu drängen. Wer nicht mehr manövrieren kann, der hat verloren. So lautet das eherne Gesetz der Autodromisten. Wer gewinnt, bekommt die Nickelbrille, den Preis des heutigen Tages und damit die Jagdlizenz auf Söhnlein.
    «Pass auf, du Krewecherl!»
    Der Lemming wirft das Steuer herum und macht einen Satz nach hinten; seines Widersachers schlagartig beraubt, schrammt Neumann bugwärts an ihm vorbei und droht sich zwischen den abgestellten Scootern zu verfangen. Der Lemming setzt sofort nach, rammt und schiebt den Gegner vor sich her, bis dieser hoffnungslos verkeilt ist.
    «Mistkerl … Du hast mich beschissen!»
    «Hör zu, Neumann …» Der Lemming sieht auf die Uhr. «Es ist fünf nach zehn. Der Söhnlein kann jeden Moment kommen. Wenn du jetzt bockig wirst, geht er uns beiden durch die Lappen.»
    «Er gehört mir!»
    «Weißt du eigentlich noch, was du uns erzählt hast, gestern Nacht? Deine Erinnerungen? Dann sperr deine Augen auf und schau her!» Aufgeregt schlägt der Lemming auf die Blechverkleidung seines Wägelchens.
    «Rot! Verstehst du? Rot wie Triest! Rot wie dein Gefühl, deine Familie! Rot wie deine Zukunft! Und du? Kein Wunder, dass du dir die gelbe Kraxen ausgesucht hast! Massada, sag ich nur! Schon vergessen? Du willst den Söhnlein umbringen. Gut. Und dann? Du nimmst dir selbst das Leben damit! Und deiner Frau, deinem Kind! Was bist du, Neumann? Ein jüdischer Rambo? Oder ein … Lemming?»
    David Neumann starrt zu Max Breitner hinüber, der noch immer auf der Parkbank sitzt. Dann greift er wortlos in die Innentasche seiner Lederjacke und reicht dem Lemming das Päckchen.
    «Gut so. Jetzt sagst du dem Max, dass die Sache abgeblasen ist. Und dann wird ein junger Mann auf euch aufpassen, damit ihr nicht doch noch Blödheiten macht. Keine

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