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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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meine …»
    Der Lemming blickt Huber von der Seite an, und seine Achtung vor dem jungen Krimineser wächst. Natürlich versteht der Lemming. Es braucht heute keinen Kupferstecher Liebermann, um sich in Wien einen neuen Pass zu verschaffen. Andere, jüngere Hände sind ebenso geschickt …
    «Und wenn ich dem Krotznig jetzt noch den Neumann vor der Nase wegschnappe», fügt Huber hinzu, «dann ist mein Glück perfekt. Fast perfekt …»

    Im westlichen Winkel des Praters zwischen Ausstellungsstraße und Hauptallee liegt wie ein vergammeltes Torteneck der Wurstelprater. Schon Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entstanden hier die ersten Marktbuden, nachdem Joseph   II. das kaiserliche Jagdgebiet zur allgemeinen Benutzung freigegeben hatte. Im Jahr 1840 nahm der legendäre Schausteller Basileo Calafati das erste große Ringelspiel in Betrieb. Johann Fürsts Singspielhalle und Präuschers Panopticum folgten, dann Baschiks Theater für Zauberei, Reinprechts Pony-Karussell und das Varieté der Gebrüder Leicht. Gemeinsam begründeten sie einen der größten und merkwürdigsten Vergnügungsparks Europas: Wer ihn betritt, wird zum Grenzgänger zwischen Geschmacklosigkeit und Poesie, Modernität und Verstaubtheit, Manie und Melancholie. Tagsüber und abends von den Marktschreiern regiert, verwandelt sich der Wurstelprater nach Mitternacht zum Jagdrevier der Huren und Diebe; und nichts vermag darüber hinwegzutäuschen, dass das morbide Wiener Karma von Jahrhunderten auf ihm lastet.
    Am Haupteingang ragt, der Innenstadt zugewandt, sein Wahrzeichen auf – das Riesenrad. Fünfundsechzig Meter hoch, ist es zugleich das verstaubte Fanal und die alternde Diva des Wurstelpraters. Gemächlich und müde dreht es seine Runden, und jedes Mal, wenn einer der fünfzehn Waggons den Zenit erreicht, hält es an und steht still – angeblich, um seinen Passagieren am Boden das Ein- und Aussteigen zu erleichtern. Aber das ist nur ein Vorwand. Es will sich einfach ausruhen, das Riesenrad.
    Acht Minuten vor zehn lässt Huber den Wagen um das Rondeau des Pratersterns schlittern, überfährt noch rasch eine gelbe Ampel und hält mit quietschenden Reifen auf dem großen Busparkplatz gegenüber dem Planetarium.
    Der Lemming wendet sich zu Klara Breitner um und meint: «Ich glaube, es ist besser, wenn Castro im Auto bleibt … Nicht böse sein, aber …»
    «Ich gebe auf ihn Acht», sagt Klara mit unbewegter Miene. Doch als der Lemming aus dem Wagen steigt, da glaubt er, einen leise gemurmelten Nachsatz zu vernehmen: «Du … Sei vorsichtig …»
    Nein, denkt er sofort, das habe ich mir nur eingebildet …

    Max Breitner sitzt alleine auf einer Parkbank neben dem Kassenhäuschen des Riesenrades. Die Augen von einer überdimensionalen Sonnenbrille verborgen, mustert er sichtlich nervös die Passanten, die es an diesem Dienstagmorgen in den Prater verschlagen hat. Viele sind es nicht. Nutten und Zuhälter haben sich zur wohlverdienten Ruhe begeben, das sittsame Volk geht seiner Arbeit nach, die Kinder sind in der Schule, und so haben gerade ein paar Touristen hierher gefunden, um den jungen, sonnigen Frühlingstag zwischen Geister- und Hochschaubahnen, Spielhallen und Schießbuden zu verbringen.
    «Das ist der Breitner …», raunt der Lemming Huber zu, nachdem die beiden im Schutz von Bäumen und Sträuchern näher geschlichen sind.
    Der Lemming überlegt. Max Breitner wird Huber keine Schwierigkeiten machen. Er ist nichts als der Lockvogel, der saftige Spatz, mit dem der Adler die Elster zu ködern versucht. Max wird sich ohne Gegenwehr verhaften lassen. Nicht so der Adler selbst: Schließlich ist er es, David Neumann, den der Rachedurst von zwei Jahrzehnten treibt.
    «Warten S’ noch ein bisserl mit dem Amtshandeln», flüstert der Lemming jetzt, «der Neumann muss hier auch irgendwo stecken. Lassen S’ den mir, ich weiß ja, wie er aussieht …»
    Er tritt ein paar Schritte zurück. Lässt den Blick schweifen. Dann schlägt er den Jackenkragen hoch und setzt sich in Bewegung.
    «Geben S’ mir zehn Minuten …»
    Im schattigen Autodrom hockt David Neumann in einem kleinen gelben Wägelchen und starrt zum Riesenrad hinüber. Der Lemming beschreibt einen weiten Bogen, pirscht sich von hinten an. Löst eine Fahrkarte. Autodrom. Wie hat es der Lemming als Kind geliebt. Er und seine Freunde haben einander wilde Verfolgungsjagden geliefert, sind kurzerhand zu Ben Hur, Derek Flint oder Captain Kirk mutiert, je nach Mode und Belieben. Die
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