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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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Wagen.
    Der Bus keucht die Höhenstraße bergan, quält sich in einer lang gezogenen Kurve bis zum höchsten Punkt der Strecke und schaukelt endlich mit selbstgefälligem Brummen dem großen Parkplatz auf dem Kahlenberg entgegen. Obwohl erst Mitte März, ist der Bus mit Urlaubern voll besetzt. Die Stimmen rund um den Lemming werden jetzt lauter, der fröhliche Chor der Touristen erschallt und singt in kakophoner Mischung aus Englisch, Italienisch, Ungarisch und Japanisch sein Loblied auf den schönen Wienerwald. Das Klicken der Fotoapparate gibt den Rhythmus vor.
    Gut so, denkt der Lemming, da fällt meine Kamera nicht so auf.
    Fauchend öffnen sich die Türen. Der grau melierte Mann drei Sitzreihen vor dem Lemming wartet, bis die letzten Mitreisenden den Bus verlassen haben. Dann erhebt er sich vorsichtig, um die rote Rose in seiner rechten Hand nicht zu beschädigen, wirft einen Blick auf die Uhr und steigt aus. Ein leises Lächeln umspielt seinen Mund.
    Den Lemming plagt schon jetzt das schlechte Gewissen. Woher, denkt er, nehme ich das Recht, das blühende Glück eines welkenden Mannes zu zerstören? Warum kann man die Frischverliebten nicht zufrieden lassen? Vielleicht ist es ja seine letzte Chance …
    Es ist weit eher persönliche als professionelle Neugier, die ihn dazu treibt, Grinzinger doch noch zu folgen. Wie mag sie wohl aussehen, die neue Flamme des alten Lateiners? Friedrich Grinzinger geht nicht, wohin die bunten Reisegruppen gehen. Er steuert nicht an der polnischen Kirche vorbei auf die Stufen der höher gelegenen Aussichtsterrasse zu. Er wendet sich schon bald nach links und betritt einen düsteren Waldweg, der zur anderen, von der Wienerstadt abgewandten Seite des Kahlenbergs führt. Dann schreitet er aus, der Doktor, als habe er nicht Latein, sondern Sport unterrichtet. Hundert, vielleicht hundertfünfzig Meter hinter ihm schnauft der Lemming, dessen notgedrungen schnelle Gangart seine Tarnung als lustwandelnder Urlauber Lügen straft. Nach zehn Minuten lichtet sich der Wald und macht einer Wiese Platz, an deren Rain ein Ausflugslokal, die Josefinenhütte, steht. Hier windet sich noch einmal die Straße vorbei, merklich abgeschlankt, weit und breit das letzte Zeichen von Zivilisation.
    Grinzinger hält an. Wieder schaut er auf die Uhr, zögert kurz, blickt dann nach hinten, wo der Lemming in gemessenem Abstand und höchster Konzentration seine Schuhbänder knotet, und betritt den Gastgarten. Es ist der fünfzehnte März, dreizehn Uhr zehn.
    Der Lemming trinkt eine Melange. Er lehnt sich mit halb geschlossenen Augen zurück, streckt sein Gesicht der Sonne entgegen, genießt, von ihrem Licht umschmeichelt, die sanft erwärmte Luft, die Vorbotin des Frühlings. Drei Tische weiter sitzt Grinzinger bei einer Tasse Kamillentee und lässt Anzeichen von Nervosität erkennen. Immer öfter kontrolliert er die Uhrzeit, greift schließlich in die Innentasche seiner beigen Windjacke und zieht ein kleines blassblaues Päckchen hervor.
    Diamanten, fährt es dem Lemming durch den Kopf, eine Kette, ein Collier, nein, wahrscheinlich eine Armbanduhr: des Humanisten freundliche Aufforderung an seine Herzdame, in Zukunft pünktlicher zu sein. Recht hat er. Sie lässt auch wirklich auf sich warten …
    Dreizehn Uhr vierzig. Grinzinger wirkt nun sehr unruhig. Unvermittelt winkt er den Kellner herbei, bezahlt und steht auf. Nimmt Rose und Päckchen und verlässt das Lokal. Rasch ist jetzt auch der Lemming auf den Beinen. «Herr Ober! Die Rechnung!»
    «Ist schon erledigt, der Herr.»
    Der Lemming stutzt. «Wie … was … erledigt?»
    Er blickt verwirrt dem enteilenden Kellner nach, ergreift dann kurzerhand seine Kamera und läuft Grinzinger hinterher.
    Wieder geht es durch den Wald. Der Berg fällt jetzt steil ab, gegen die Stadt Klosterneuburg hin, deren kolossales Augustinerstift hier und da durch die Zweige schimmert. Der steinige Weg verläuft in Mäandern, immer schwieriger wird es, dem Lehrer zu folgen, ohne ihn ganz aus der Sicht zu verlieren, und dann, als der keuchende Lemming um die nächste Kurve biegt, steht ihm Grinzinger plötzlich gegenüber, keine zwanzig Meter entfernt. Und Grinzingers kleine dunkle Augen blicken ihn an.
    Da ist nichts mehr zu hören als das Hämmern des eigenen Herzens. Da ist nichts mehr zu spüren als die brennende Röte im Gesicht. In wilden Rösselsprüngen zucken die Gedanken des Lemming hin und her, stoßen an die Innenwände seines Schädels, werden zurückgeworfen und
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