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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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vernimmt er ein Geräusch. Ein leises Piepsen, ähnlich dem seines Radioweckers, und kurz darauf die erregte Stimme eines Mannes, zu weit entfernt allerdings, um verständlich zu sein. Wieder wendet sich der Lemming talwärts, schleppt sich, schon reichlich erschöpft, bis zu den Hecken am Waldrand. Irgendwo links von hier muss es gewesen sein, irgendwo hinter den Hecken; von da muss die Stimme gekommen sein.
    Der Lemming zwängt sich durchs Gesträuch und merkt schon bald, dass jenseits der Büsche ein schmaler, waldumsäumter Wiesenhang liegt, der zieht sich, noch dürr und braun vom Winter, fünfzig, sechzig Meter weit den Berg hinab, fängt sich in einer sanften Mulde, um auf der anderen Seite wieder anzusteigen. Dort unten aber, in der Mulde, entdeckt er endlich den abhanden gekommenen Grinzinger. Friedrich Grinzinger sieht den Lemming nicht. Er liegt auf dem Bauch im Gras, ganz still, und aus seinen Ohren tropft satt und rot das Blut.

3
    Der Lemming ist müde. Er sitzt, an eine junge Birke gelehnt, am Rand der Wiese und wartet. Die Hände hat er in den Schoß gelegt, um sie nach Möglichkeit nicht zu bewegen. Entschieden zu eng, diese Handschellen … Unweit von ihm haben sich vier Gendarmen postiert, im Kreis um Grinzingers Leiche, und werfen ihm misstrauische Seitenblicke zu.
    Alles ist so schnell gegangen. Beunruhigend schnell.
    Die vergangene Stunde läuft vor dem inneren Auge des Lemming ab, immer und immer wieder. Es war etwa vierzehn Uhr zwanzig, als er den Toten gefunden hat. Er ist den Hang hinabgelaufen und hat, noch bevor er bei Grinzinger angelangt war, erkannt: Hier ist nichts mehr zu machen. Vor einem halben Jahr im Herbst ist dem Lemming unten auf der Wienzeile ein Missgeschick passiert. Er spazierte den Naschmarkt entlang und wollte sich eben einen extrascharfen Döner zu Gemüte führen, da wurde er von hinten angerempelt und stieß an einen der Verkaufstische, auf denen die Waren feilgeboten wurden. Eine ganzer Haufen Kürbisse ist damals auf den Boden gepoltert und zerplatzt, Kürbisse für die nahende Geisternacht, die auch in Wien längst Halloween genannt wird.
    Grinzingers Hinterkopf hat ihn sofort an die aufgeplatzten Kürbisse erinnert. Die aufgebrochene Schale, dazwischen das weiche, saftige Fruchtfleisch, quellend, amorph, von rötlichen Schlieren durchzogen. Aber er hat das freigelegte Lateinergehirn nicht lange betrachtet. Er hat seine Aufmerksamkeit bedeutend wichtigeren Dingen zugewandt. Dem schweren, blutverschmierten Stein zu Grinzingers Füßen beispielsweise. Und dem Mobiltelefon, das neben der roten Rose im dürren Gras gelegen hat. Rasch und mit aller gebotenen Vorsicht hat der Lemming begonnen, die Leiche zu durchsuchen. Mit spitzen Fingern zuerst, dann mit Hilfe der Handschuhe, die er glücklicherweise bei sich trug. Aber da ist nichts zu finden gewesen, nichts Ungewöhnliches jedenfalls. Ein Schlüsselbund. Eine Packung Taschentücher. Ein Kugelschreiber. Eine Brieftasche. Darin ein kleinerer Geldbetrag, Grinzingers Führerschein, drei Tickets der Wiener Verkehrsbetriebe, ein paar Visitenkarten. Die Visitenkarten hat der Lemming an sich genommen. Dann hat er die Brieftasche in Grinzingers kariertes Sakko zurückgeschoben und den Lehrer wieder auf den Bauch gedreht. Kaum zehn Minuten hat er für all das gebraucht, es muss also kurz nach halb drei gewesen sein, da sind schon die Gendarmen aus den Büschen gebrochen und mit erhobenen Pistolen auf ihn zugelaufen.
    «Stehen bleiben!», «Hände hoch!», «Waffe runter!», «Gesicht zur Wand!», haben die vier durcheinander gebrüllt, aber es war keine Waffe da und vor allem keine Wand, an die sich der Lemming hätte stellen können. Also hat er ganz langsam die Arme gehoben und gerufen:
    «Nicht schießen! Kollegen! Nicht schießen!»
    Trotzdem sitzt er jetzt da, ist an den Händen gefesselt und steht unter Mordverdacht. Hoch über ihm zieht ein Bussard seine Kreise. Die Herren von der Mordkommission lassen auf sich warten.
    Im Kopf des Lemming breitet sich Chaos aus. Er versucht, das Erlebte zu deuten, zu einem stimmigen Bild oder doch zumindest zu einer groben Skizze zu fügen. Aber er kommt nicht weit. Zu wirr, zu widersprüchlich sind Gesehenes und Geglaubtes, Gewusstes und Gefühltes, als dass ein Muster dahinter erkennbar wäre. Dazu noch das schlechte Gewissen. Er hat kläglich versagt, er hat es vermasselt, er hat einen springlebendigen Mann zu Tode observiert. Selbst wenn er die eigene Unschuld beweisen kann, so
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