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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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Leopold Wallisch seinem jungen Kollegen überlässt. Er selbst kehrt der Szene den Rücken, wütend und gekränkt wie ein Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hat. Während die Fesseln gelöst werden, schenkt der Lemming dem alten Bernatzky ein dankbares Lächeln. Und Bernatzky quittiert’s mit Augenzwinkern.
    Was der Lemming in der folgenden halben Stunde zu Protokoll gibt, ist fast die reine Wahrheit. Die ganze ist es nicht. Er berichtet Huber von seinem Auftrag, von Cerny und dem gelben Kuvert, er gibt an, was er über den Toten weiß, und schildert den Weg auf den Kahlenberg, die misslungene Überwachung. Grinzinger sei plötzlich weg gewesen, habe sich vielleicht sogar absichtlich versteckt. Mit so etwas habe ja niemand rechnen können. Er selbst sei dann eher zufällig über die Leiche gestolpert. Nein, er habe nichts berührt, habe so rasch wie möglich die Polizei verständigen wollen. Aber zu spät, sie sei ja zu diesem Zeitpunkt schon da gewesen. Grinzingers eigentümliches Verhalten lässt der Lemming unerwähnt, vor allem aber verschweigt er das blassblaue Päckchen.
    Kurz vor fünf ist Huber zufrieden gestellt.
    «Halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung», sagt er ganz so, wie er es aus amerikanischen Filmen kennt. Im Abgehen dreht sich der Lemming noch einmal zu Huber um. «Die Gendarmerie», sagt er, «woher wussten die das? Und warum so schnell?»
    Hubers Antwort kommt rasch: «Das Handy. Er hat selbst angerufen, bevor es passiert ist …»  

    Langsam breitet sich die Abenddämmerung aus, legt sich begütigend auf Wald und Wiesen, verhüllt das Leben und den Tod.
    Der Lemming schreitet den Berg hinauf, zum letzten Mal an diesem Tag. Eine Busfahrt wartet auf ihn. Und ein vergrabenes Päckchen am Fuß einer Buche, das seinen Absender verloren hat.

4
    In den Büschen, dreißig, vielleicht vierzig Meter abseits des Weges, steht es, das Vieh, das Getüm. Steht da wie die steinernen Löwen draußen in Nussdorf, an der Mündung des Donaukanals, steht da wie angegossen, die Pfoten tief ins torfige Laub vergraben. Seine blutunterlaufenen Augen starren ins Leere.
    Der Lemming schleicht vorsichtig näher, umkreist das Tier in gebührendem Abstand, immer zur Flucht bereit. Langsam pirscht er sich an, von der Seite zunächst, hält inne, überlegt einen Augenblick, beschreibt dann einen weiten Bogen und nähert sich schließlich, Schritt für Schritt, von vorne der Kreatur. Ein Windstoß pfeift durch das Buschwerk, spielt mit den schlafenden Zweigen, fährt kalt in des Lemming hochgeschlagenen Kragen und verfängt sich im Fell des regungslosen Tieres.
    Es ist ein Hund.
    Noch nie hat der Lemming einen Hund wie diesen gesehen. Einen Hund von den Ausmaßen eines Kalbes, nein, schon eher einer jungen Kuh, einen Hund, dessen lange, verfilzte Zotten an russische Bärenfelle erinnern und an ewige Winter ohne Wasser und Seife.
    Lange Minuten vergehen. Zwei, drei behutsame Schritte wagt der Lemming noch, dann hält er an. Keine fünf Meter liegen nun zwischen den beiden, die einander stumm gegenüberstehen: lauernd, gebückt und sprungbereit der Lemming, hoch aufgereckt und unbewegt der Hund, dessen gläserner Blick in rätselhafter Ferne weilt. Für eine kleine Ewigkeit harrt der Lemming so aus, während die Feuchtigkeit des abendlichen Waldbodens seine Schuhe und Socken durchweicht, an seinen klammen Beinen hoch und höher steigt. Dann aber, irgendwann, keimt ein leiser Verdacht in ihm auf, beginnt zögernd in seinem Kopf zu kreisen, um sich endlich zur einen, unverbrüchlichen Gewissheit zu verdichten. Sein Körper entspannt sich. Er richtet sich auf.
    «Ausgestopft …», murmelt der Lemming. Und dann, etwas lauter: «Das Vieh ist doch ausgestopft!» Und er tritt, ein Schmunzeln auf den Lippen, dem Hund entgegen.
    Zu früh geschmunzelt.
    Ein Ruck geht durch den Leib des struppigen Monsters, durchzittert die Glieder, läuft quer über das Fell bis hin zu den plötzlich aufgerichteten Ohren.
    Es springt … Das ist des Lemming letzter Gedanke, bevor er zu Boden gerissen wird. Schon vermeint er, die schweren Tatzen auf seiner Brust, die gewaltigen Zähne an seiner Kehle zu spüren, schon verflucht er von ganzem Herzen den alten Bernatzky, dessen Haarspaltereien er seine Freiheit und damit den nahenden Tod zu verdanken hat. Wie gemütlich wäre es jetzt in einer der Zellen der Liesl an der Rossauer Lände, vielleicht gar mit Blick auf den Donaukanal.
    Aber der tödliche Biss bleibt aus. Nichts
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