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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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versuchen abermals, der unerträglichen Peinlichkeit der Situation zu entfliehen. Ein Bild taucht auf, ein lange verschüttetes Kindheitsbild, das seines eigenen Vaters in der Küchenecke, die Spielkarten in der Hand. Beim Schnapsen hat der Vater den kleinen Lemming oft gewinnen lassen, aber er hat ihm nie, nicht ein einziges Mal, den Triumph des Siegers gegönnt. Seiner Miene konnte der Bub stets nur eines entnehmen: ein selbstgefälliges, gnädiges «Sieh her, du Knirps, wie gut ich’s mit dir meine …». Dreißig Jahre sind seither vergangen, aber jetzt und hier fällt es ihm wieder ein. Der Ausdruck seines Vaters. Grinzingers Blick spricht eine ähnliche Sprache. So stehen sie und starren einander an, und mit einem Mal dämmert es dem Lemming: Das hier ist ein Spiel, dessen Regeln er nicht kennt, ein Spiel mit vertauschten Rollen. Er, der Lemming, ist hier der Überwachte, nein, schlimmer noch, er war von Anfang an eine Marionette in Grinzingers Hand. Der Lehrer hat ihn, aus welchem Grund auch immer, hierher in den Wald gelockt.
    Was tun, überlegt er fieberhaft, was denn nur tun?
    Der Anflug eines Lächelns huscht jetzt über Grinzingers unbewegtes Gesicht, er zieht den linken Mundwinkel hoch und nickt dem Lemming zu, kurz und spöttisch und doch auch ein wenig verschwörerisch, wendet sich ab und geht los. Er bleibt nicht auf dem Weg, sondern lenkt seine Schritte quer in den Wald hinein, stapft durch raschelndes Laub und Unterholz, bis er kaum noch zu sehen ist. Am Fuß einer mächtigen Buche hält Grinzinger an, stützt sich am Baumstamm ab und hockt sich auf den Boden. Angestrengt späht der Lemming durch die Büsche, versucht zu erkennen, was der Lehrer dort tut. Die Kamera fällt ihm ein. Er zieht die Schutzkappe vom Teleobjektiv, senkt aber dann den Kopf und seufzt.
    «Weit hast du es gebracht … Pensionäre beim Scheißen fotografieren, ein Traumjob. Da kannst du stolz drauf sein, mein Lieber …»
    Inzwischen scheint Grinzinger fertig zu sein. Er richtet sich auf, kehrt zurück auf den Weg, ohne den Lemming eines weiteren Blickes zu würdigen, und setzt seinen Marsch in Richtung Klosterneuburg fort.
    Und wenn er nicht …?, denkt der Lemming. Es ist nur ein vages Gefühl, das da plötzlich in ihm hochsteigt, aber vage Gefühle sollte man nie ignorieren, das weiß er aus seiner langen Zeit bei der Kriminalpolizei.
    Das Spiel ist noch nicht verloren, sagt ihm dieses Gefühl, und: Grinzinger braucht dich, und: Hier geht es um etwas ganz anderes. So seltsam es sein mag: Mit einem Mal kommt ihm der Verdacht, dass der gelbe Umschlag des alten Cerny in Wahrheit hätte rot sein müssen. Und jetzt verlässt auch der Lemming den Pfad, kämpft sich durchs Gestrüpp, bis er die Buche erreicht hat. Schiebt mit seinen Schuhspitzen das Laub zur Seite. Grinzinger hat nicht geschissen. Vor den Füßen des Lemming liegt das blassblaue Päckchen.
    Nun versteht er gar nichts mehr. Durch seinen Kopf wirbelt ein Reigen wirrer Zweifel, dem er schließlich ärgerlich Einhalt gebietet: Ich habe mir das alles nur eingebildet. Er hält mich für einen Touristen, nicht mehr. Und seine Einladung, oben in der Hütte? Purer Übermut. Eine Laune. Immerhin ist der Mann verliebt. Der Frühling steckt ihm in den Knochen. Er wird seine Angebetete treffen, ihr die Rose überreichen und sie dann zu einem Kinderspiel auffordern. Kichernd wie pickelige Primaner werden sie auf Schatzsuche gehen, werden wie zufällig unter der Buche landen und das Päckchen entdecken. Er wird ihr zuzwinkern und überrascht tun, und sie wird ihm seufzend in die Arme sinken, ihn auf den Boden ziehen und küssen. Nein, nicht nur küssen … Und ich werde die beiden Turteltäubchen dabei fotografieren. Vielleicht bringt das gnädige Fräulein dem alten Lateiner ja Griechisch bei …
    Gereizt schnaubt der Lemming durch die Nase. Deckt kurzerhand das Päckchen wieder zu und hastet Grinzinger nach.
    Aber Grinzinger ist verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.
    Der Lemming stolpert den Weg hinab, sucht links und rechts, passiert bald die Waldgrenze und einige dichte Hecken, gerät auf Asphalt und sieht die ersten Häuser vor sich auftauchen. Kann Grinzinger so weit gelaufen sein? Hat ihn sein Tête-à-tête vielleicht gar in einer dieser zaunbewehrten Villen erwartet? War am Ende alles nur ein Ablenkungsmanöver? Der Lemming glaubt es nicht. Er macht kehrt, läuft abermals bergan, taucht in den Wald, sucht verbissen seinen verlorenen Auftrag.
    Und dann
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