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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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geschieht.
    Langsam öffnet der Lemming die Augen, setzt sich auf, betastet seinen Hals und greift an seine Jackentasche, in der Grinzingers blassblaues Päckchen steckt. Es ist alles noch da, es ist alles noch unversehrt. Nur: Wo ist das Tier geblieben?
    Und dann entdeckt er den tanzenden Schatten zwischen den Bäumen. Es ist der Hund, der einen nie gesehenen, seltsamen Walzer aufführt, hechelnd und blaffend und schnappend durchs Dämmerlicht hüpft, als jage er einem Bienen-, nein, einem Schmetterlingsschwarm hinterher. Einmal streckt er die Vorderpfoten weit von sich, verharrt mit hoch erhobenem Schwanz, dann wieder schnellt er vor, dreht sich tänzelnd auf den Hinterbeinen wie ein in Trance versunkener Derwisch, die Lefzen zu einem entrückten Grinsen verzerrt.
    Gebannt folgt der Lemming dem Schauspiel, und er würde noch lange so selbstvergessen im Laub gesessen haben. Aber plötzlich friert die Bewegung des Hundes ein, er erstarrt gleichsam im Flug, prallt dumpf auf den Boden und kippt zur Seite.
    Der Mond ist aufgegangen. Unten, auf Grinzingers Todeswiese, hat man wahrscheinlich schon Stromkabel verlegt, Scheinwerfer aufgebaut. Polizeifotograf und Experten der Spurensicherung werden jetzt wohl ihr Werk dort verrichten, im Hintergrund die ungeduldigen Leichenträger, die darauf warten, Grinzingers Überreste in Aluminium zu betten und der Gerichtsmedizin zuzuführen. Der Lemming hat keinen Scheinwerfer. Zaghaft kniet er sich neben das Tier und berührt dessen Flanke. Das Fell ist warm, der Herzschlag flach, aber spürbar.
    Ein Halsband, wahrscheinlich aus Leder. Eine Metallplakette, die der Lemming ertastet.
    Ich kann ihn hier nicht so liegen lassen …
    Er legt seine Arme um die Taille des Hundes, versucht, ihn zu heben. Unmöglich. Er packt die versteiften Läufe, probiert, das Tier mit sich zu schleifen. Keine Chance.
    Das arme Vieh braucht einen Arzt … Vielleicht ist Bernatzky noch da. Ich könnte … Nein. Niemand bringt mich noch einmal dahinunter. Kein Hund und keine zehn Pferde. Eine Dosis Krotznig täglich ist schon eine Überdosis.
    Der Lemming macht sich auf den Weg, bergauf, zur Josefinenhütte. Dort wird er telefonieren: mit der Tierrettung. Und danach, wohl oder übel, mit dem alten Cerny. Er spürt den harten Kloß in seinem Bauch. Telefonieren. Und dann den Bus besteigen, heimfahren, schlafen. Schlafen. Schlafen. Und morgen, so beschließt er, wird er sich auch so ein Handy anschaffen.

    Die Tierrettung ist auf dem Weg. So weit, so gut. Aber dann der Anruf in der Detektei …
    Kein gutes Gespräch. Der Kloß im Magen des Lemming ist zu einem schweren Klumpen angewachsen. Cerny hat nicht viel gesagt.
    «Morgen um neun in meinem Büro», das war alles. Natürlich hat Cerny schon Bescheid gewusst über Grinzingers Tod und die Unfähigkeit seines Mitarbeiters. Es muss Krotznig gewesen sein, ganz sicher Krotznig, der Cerny angerufen hat, ihn zur Rede gestellt, mit Konsequenzen gedroht, Druck gemacht. Neun Uhr früh in Cernys Büro.
    Der kommende Tag, brütet der Lemming, wird wohl auch so ein Tag.
    Während er zur Haltestelle geht, fällt ihm Grinzingers Päckchen wieder ein. Er zieht es aus der Tasche, betrachtet es lange im fahlen Schein einer Straßenlaterne und beginnt dann vorsichtig, die Klebebänder zu entfernen.
    «Schrödingers Katze», murmelt er, «es ist wie bei Schrödingers Katze.» Und der Lemming denkt an seine Schulzeit zurück, an den Physikunterricht und an Erwin Schrödinger, den berühmten österreichischen Physiker. 1935 ersann Schrödinger ein viel beachtetes Gedankenexperiment, mit dem er die Theorien der Quantenphysik ad absurdum führen wollte. Man brauchte eine Katze dazu, ein Fläschchen mit Blausäure, einen darüber befindlichen Hammer und ein radioaktives Atom, dessen möglicher Zerfall den Hammer steuerte. All diese imaginären Dinge wurden in einer imaginären Kiste versperrt. Schrödinger stellte nun die Frage, ob die Katze lebte oder tot war, solange die Kiste verschlossen blieb. Nach den Gesetzen der Quantenmechanik musste sich die Katze in einem ungeklärten Zwischenzustand befinden, bis der Deckel der Kiste abgenommen wurde. Dann erst fiel die Entscheidung zwischen Sein und Nichtsein, kurz gesagt: Der Blick des Beobachters selbst war es, der das Ergebnis des Experiments bestimmte.
    Jetzt entscheidet es sich, denkt der Lemming, während er das Seidenpapier zurückschlägt. Lebt die Katze, dann halte ich des Rätsels Lösung in der Hand, oder doch wenigstens
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