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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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einen österreichischen Kompromiss. Wenig später zog Draga ins Waisenhaus. Noch ein halbes Jahr lang wurde sie wöchentlich von den Gasteltern besucht, für ein weiteres Jahr erhielt sie monatlich Pakete mit Süßigkeiten, und bis zu ihrem fünfzehnten Geburtstag brachte ihr der Briefträger das obligatorische Glückwunschbillet. Dann war Draga erwachsen.
    Gruppeninspektor Krotznig hat Draga vor zwei Jahren am Karlsplatz festgenommen, unten, in der U-Bahn-Station, wo es auch im Winter warm und gesellig ist. «Razzia!», hat Krotznig gerufen, und dann ist es eine sehr kleine Razzia gewesen. Krotznig hat sie im Grunde ganz alleine durchgeführt, mit Draga als einziger Verdächtiger. Statt eines Ausweises hat Draga zwei Gramm Heroin bei sich gehabt, aber Krotznig hat ein Auge zugedrückt. Er hat Draga noch in derselben Nacht dreimal perlustriert, drüben in seiner Wohnung im fünften Bezirk. Und eine Woche später hat er ihr den Job im Augenschein verschafft.
    «Viertel Rot.»
    Der Lemming nimmt das Glas, wendet sich ab, geht langsam auf einen der beiden Tische zu. Bleibt auf halbem Wege stehen, trinkt, tritt wieder an die Bar.
    «Viertel Rot.»
    Der Lemming trinkt. Er schüttet den Roten in sich hinein, als könne ihn der Wein von innen her erneuern, ihm seine alte Kraft, seinen alten Namen wiedergeben. Er reist in einen Zustand der Klarheit, des Gedankenflusses, der Entkörperung. Und er reist express.
    «Viertel Rot.»
    Sich wieder spüren. Das Richtige tun, und zwar zur rechten Zeit, also jetzt. Diese unerträglichen Zweifel abstreifen. Sich vor Krotznig hinstellen, ihm wortlos ins Gesicht schlagen. Was ist richtig? Was ist falsch? Selbstverständlich ist Krotznig eine Sau, aber ist er nicht eine arme Sau? Wenn man schon aus Klagenfurt stammt, mit einem versoffenen Bundesbahner als Vater. Wenn man schon mit siebzehn ein Ei verliert, weil der gegnerische Stürmer den Ball verfehlt. Wenn man schon extra nach Wien kommt, um ausgerechnet Polizist zu werden. Wenn man sich schon in eine rothaarige Kellnerin namens Manuela Ploderer verliebt. Und wenn man Manuela Ploderer ein Jahr später mit einem anderen im Bett erwischt …
    «Arme Sau», murmelt der Lemming, und: «Viertel Rot.»
    «Was sagst, Lemming? Was hast g’sagt?»
    «Nichts …»
    Noch ist er nicht so weit. Noch hat der Lemming die angestrebte Vergeistigung nicht erreicht. Zwei Viertel, drei vielleicht, und er wird angekommen sein. Krotznig also. Man muss ihn verstehen. Er kann nicht anders, als seine Schwächen mit Härte zu kaschieren, seine alten Wunden hinter Rohheit zu verstecken. Man muss das verstehen. Der Arme hat ja nur ein Ei, sein Nebenbuhler hatte zwei …
    «Viertel Rot», kichert der Lemming.
    Und dann dieser Spitzname. Auch eine Erfindung Krotznigs. Der Lemming heißt ja gar nicht Lemming, er heißt Wallisch, Leopold Wallisch. Bei einem Einsatz hinter dem Westbahnhof ist es gewesen, da hat er sich, ohne die Waffe zu ziehen, dem Wagen eines Flüchtigen in den Weg gestellt. Ein junger Eifersuchtsmörder, nervlich am Ende, kurz davor, sich zu ergeben. Er wäre auf die Bremse gestiegen, ganz sicher hätte er gebremst. Krotznig war es, der gefeuert hat. Ein sauberer Schläfenschuss, aus dreißig Metern durch die Autoscheibe. Und am nächsten Tag hat Kollege Adolf Krotznig den Kollegen Leopold Wallisch vor versammelter Mannschaft «woamer Lemming» genannt. Der Lemming haftet ihm seither an, nur der Lemming, glücklicherweise.
    Was ist nun also richtig? Und was falsch? Nachfragen? Mitfühlen? Verstehen wollen? Oder handeln, spontan, synchron, intuitiv?
    «Handeln», lallt der Lemming, «handeln!»
    Es ist so weit. Er ist warm getrunken. Er fühlt sich endlich, und er fühlt sich wohl in seiner Haut.
    «Viertel Rot! Handeln!», brüllt der Lemming.
    Ein wenig ungelenk schlüpft er aus dem Mantel, dann aus seiner Weste und öffnet den ersten Hemdknopf.
    «Handeln! Alle! Das ist die letzte Chance! Die letzte Chance! Jetzt sofort! Versteht’s ihr nicht? Gleich muss man’s tun!» Er nimmt einen Schluck. Beginnt, sich die Hose aufzuknöpfen. Legt kurz den Kopf zur Seite, lauscht dem Rauschen in seinen Ohren, dem Rauschen des Blutes, des Weines, der Wahrheit.
    «Versteht’s ihr nicht? Immer die anderen verletzen! Gegenseitig! Das hört nie auf! Wenn’s uns wehtut, geben wir’s weiter, immer weiter, Hauptsach, an Schwächere, am Schluss an die Kinder!»
    Stolpernd entledigt sich der Lemming seiner Socken. Richtet sich wieder auf, leert rasch sein Glas
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