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Der Fall Demjanjuk

Der Fall Demjanjuk

Titel: Der Fall Demjanjuk
Autoren: Heinrich Wefing
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Jedenfalls dann, wenn ein Gegenstand so widersprüchlich, unscharf und derart ambivalent ist wie der Fall Demjanjuk. Von diesen Ambivalenzen, vondiesen Unschärfen, von diesen Dilemmata handelt das vorliegende Buch.
    Und es handelt vom Leben eines Mannes, John Demjanjuk, der immer wieder zwischen die Mühlsteine der Weltgeschichte geraten ist. Ein exemplarischer Mensch des 20. Jahrhunderts, der entwurzelt wurde von Krieg und Gewalt, den es über die Kontinente gefegt hat, ein Heimatloser und Entfesselter. Ein Opfer der Umstände, ein Täter vermutlich und ganz gewiss ein Getriebener. Kolchosenbauer und Rotarmist, Gefangener der Wehrmacht, Handlanger der SS, Kraftfahrer der US Army und Fließbandarbeiter bei Ford, alles in kaum mehr als zehn Jahren. Ein Hin und Her zwischen den Fronten, zwischen den Staaten, zwischen den Welten, zwischen Mitmachen und Krepieren, das ihn ein Leben lang verfolgt und immer wieder eingeholt hat.
    Wer ist dieser Mann, dieser Irrläufer der Weltgeschichte, in dessen Biographie alle Schrecken und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts eingeschrieben sind: Krieg und Holocaust, der Ost-West-Konflikt, der Fall der Mauer, das Ende des Kommunismus. Wer ist dieser Mensch? Ein Monster? Ein Mörder? Ein virtuoser Überlebenskünstler und mittelmäßiger Lügner? Oder doch nur ein fleißiger Arbeiter, braver Familienvater und zuverlässiger Kirchgänger, wie er so hartnäckig behauptet hat?
    Wer ist dieser John Demjanjuk?

Erster Teil: Der Mann aus der Ukraine

Überleben
    Im Osten, 1920–1943
    Das Dorf Dubowi Macharynzi liegt tief im Westen der Ukraine, fast drei Stunden Autofahrt von Kiew entfernt, umgeben von Weizenfeldern und Raps. Vor den niedrigen Häusern streunen Hunde herum, Hühner picken im Staub, in den Gärten wachsen Kartoffeln, Tomaten und Gurken. Wasser schöpfen die Bewohner noch immer aus Brunnen, genauso wie damals, als hier Olga Demjanjuk ihren Sohn Iwan Nikolajewitsch zur Welt brachte, am 3. April 1920, zwei Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs.
    Einige wenige Greise leben noch in Dubowi Macharynzi, die sich an die Demjanjuks erinnern. Oder vielleicht geben sie auch nur vor, sich zu erinnern. Ein wenig stiller als die anderen sei er gewesen, sagen die Alten, und nicht sehr intelligent. Neun Jahre ging er zur Schule, schaffte aber nur den Abschluss der vierten Klasse. «Ein Dorfjunge wie alle hier», heißt es. Ein Bauernlümmel aus einer armen Familie, gerissen und zäh. Seine Eltern waren beide Invaliden, seine Mutter konnte nur mit Mühe gehen, sein Vater hatte im Ersten Weltkrieg alle Finger der rechten Hand verloren, nur den Daumen nicht, der starr von der verstümmelten Hand abstand. Mit siebzehn wird Iwan zum Gehilfen des Traktorfahrers der örtlichen Kolchose, mit achtzehn tritt er in den «Komsomol» ein, den Jugendverband der Kommunistischen Partei. Aus Angst, verhöhnt zu werden, wenn er der Gruppe ferngeblieben wäre, behauptet er.
    Irgendwann, viel später, wird Demjanjuk einmal sagen, er habe «drei oder vier sehr schwere Zeiten» durchstehen müssen. Die erste schwere Zeit kommt mit mörderischer Wucht, als er dreizehn Jahre alt ist. Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft stürzt die Ukraine in Elend und Verzweiflung. Die Ernten der Bauern werden billig in andere Landesteile verkauft, ein Teil des Weizens wird exportiert. In den Jahren 1932 und 1933 verhungern fünf, sechs oder zehn Millionen Menschen, niemand vermag das genau zu sagen. Iwan Demjanjuk sieht Nachbarn Rinde und Zweige essen, er sieht, wie sie langsam sterben, mit spitzen Gesichtern und aufgeblähten Bäuchen. Er selbst isst Ratten und Mäuse. Für ein paar Laib Brot, so wird erzählt, verkauften die Demjanjuks ihren Hof. Sehr wahrscheinlich, dass der Dreizehnjährige damals, während der mörderischen Hungersnot, die Bolschewiken zu hassen lernte. Und mehr noch spricht dafür, dass er damals das einzige große Talent in sich entdeckte, das er je besaß: das Talent zu überleben.
    1941 bricht die Geschichte ein zweites Mal in Demjanjuks Leben ein. Kurz nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion wird er in die Rote Armee eingezogen und als Artillerist in den Kampf gegen die Deutschen geschickt. Es ist ein Abschied für immer, sein Heimatdorf sieht er nie wieder, auch Vater und Mutter nicht. Bald wird er von einem Granatsplitter am Rücken verwundet, die Narbe ist noch heute zu sehen. Demjanjuk kommt in verschiedene Lazarette, erholt sich langsam und wird wieder zu einer Artillerieeinheit
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