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Der Fall Demjanjuk

Der Fall Demjanjuk

Titel: Der Fall Demjanjuk
Autoren: Heinrich Wefing
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strafrechtlichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit», jedenfalls für den Zeitraum bis gegen Ende der sechziger Jahre, und von einer «nicht minder skandalösen personellen Kontinuität innerhalb der Justiz».
    Nach jüngeren Untersuchungen des Münchner Instituts für Zeitgeschichte haben die deutschen Staatsanwaltschaften in den sechzig Jahren von 1945 bis 2005 zwar gut 36.000 Strafverfahren wegen NS-Verbrechen geführt. Aber in lediglich 204 Fällen erkannten die Richter auf Mord, gegen nur 166 Angeklagte wurde eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt. Selbst wenn man einräumen muss, dass eine angemessene Ahndung der Shoa durch die Justiz vermutlich ohnehin ausgeschlossen ist, und selbst wenn man berücksichtigt, dass viele Täter den Krieg nicht überlebten und ein nicht unerheblicher Teil der NS-Täter von den alliierten Besatzungsmächten oder im Ausland abgeurteilt wurde, so ist das Ergebnis doch insgesamt niederschmetternd. Einige der Anwälte im Demjanjuk-Prozess haben denn auch in vertraulichen Gesprächen geäußert, der Umgang der Nachkriegsjustiz mit der NS-Zeit sei «schlicht zum Heulen». Es sei «zutiefst empörend», wie von den damals zuständigen Gerichten «mit juristischen Kategorien hantiert wurde», um eigentlich zwingende Verurteilungen von NS-Tätern zu lebenslänglicher Haft zu vermeiden.
    Diese Befunde stellen den allgemeinen Hintergrund für den Prozess gegen John Demjanjuk dar. Mindestens so bedeutsam ist aber der Umgang der Justiz mit dem Vernichtungslager Sobibor selbst. Nur ein kleiner Teil der Männer, die für die Verbrechen in dem Vernichtungslager verantwortlich waren, wurde von deutschen Gerichten angeklagt, viele tauchten unerkannt im bürgerlichen Alltag unter, mehrere nahmen sich das Leben. In fünf Prozessen – in Berlin, Frankfurt, Hamburg, Hagen und Düsseldorf – bemühten sich bundesdeutsche Gerichte zwischen 1950 und 1970 um eine Ahndung der Verbrechen im Vernichtungslager Sobibor, in dem zwischen Anfang 1942 und Herbst 1943 wohl mindestens 250.000 Menschen ermordet wurden. Vier der Angeklagten, die wichtigsten Befehlshaber des Lagers, darunter der Kommandant, SS-Obersturmbannführer Franz Stangl, wurden zu lebenslanger Haft verurteilt; alle Übrigen erhielten lediglich wenige Jahre Haft oderwurden freigesprochen, weil diese Männer, so die Richter, überzeugt gewesen seien, ihr eigenes Leben stehe auf dem Spiel, wenn sie sich der Mordroutine widersetzt oder entzogen hätten. Zu den Offizieren, die wegen dieses sogenannten Putativnotstandes freigesprochen wurden, zählte auch Erich Lachmann, der bis Herbst 1942 die Trawniki-Wachmannschaften in Sobibor befehligt hatte. Mangels ausreichender Beweise freigesprochen wurde nach mehrjähriger Verhandlung vor dem Schwurgericht Hamburg auch der 1941 eingesetzte Lagerleiter von Trawniki, SS-Sturmbannführer Karl Streibel.
    Wie kann einer wie John Demjanjuk, der allenfalls ein Handlanger war, ein ungebildeter Wachmann auf der untersten Stufe der Hierarchie, in den Worten des Amsterdamer Strafrechtlers Christiaan Rüter einer «der kleinsten der kleinen Fische» – wie kann so einer noch 65 Jahre nach Kriegsende wegen Beihilfe zum Mord in Sobibor angeklagt werden, wenn viele der SS-Männer und Polizei-Offiziere, die das Vernichtungslager befehligten, freigesprochen oder lediglich zu niedrigen Haftstrafen verurteilt wurden? Widerspricht das nicht jedem Gerechtigkeitsgefühl? Muss es nicht eine innere Relation zwischen Anklagen und Strafen geben, selbst wenn sie Jahre auseinanderliegen? Oder genügt es zu sagen, ein falsches Urteil aus den sechziger Jahren könne doch keinen Staatsanwalt, keinen Richter daran hindern, sich eines Besseren zu besinnen und heute das Richtige zu tun?
    Man kann über den Prozess gegen John Demjanjuk nicht berichten, ohne über Ambivalenzen zu schreiben. Über Gewissheiten, die sich nicht einstellen wollen. Über Gefühle, die schwanken zwischen Abscheu und Mitleid. Denn je länger man über diesen Fall nachdenkt, desto stärker werden die Zweifel. Je länger man den Prozess betrachtet, desto mehr häufen sich die blinden Flecken. Dies ist ein Fall, der an die Grenzen des Rechts führt oder mindestens an die Grenzen des Rechtsgefühls. Richter müssen am Ende notwendig ein Urteil fällen, Beobachter nicht. Sie haben das Privileg, Widersprüche zuzulassen und Unschärfen auszuleuchten. Sie können das Unbehagen benennen, die Zweifel formulieren – vielleicht müssen sie das sogar.
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