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Der Fall Demjanjuk

Der Fall Demjanjuk

Titel: Der Fall Demjanjuk
Autoren: Heinrich Wefing
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Angeklagten.
    «Herr Demjanjuk», fragt der Vorsitzende und betont überdeutlich jedes Wort, «möchten Sie noch etwas sagen?»
    Dem Angeklagten steht das letzte Wort zu vor dem Urteil, so schreibt es das Gesetz vor. Eine allerletzte Chance, sich zu verteidigen, seine Sicht der Dinge zu schildern, das Schweigen zu brechen.
    Der Saal wartet atemlos. Nichts, gar nichts, hat Demjanjuk in den vergangenen achtzehn Monaten zu den Vorwürfen gegen ihn gesagt, sosehrer auch von den Angehörigen der Opfer dazu gedrängt worden ist. Es wäre fast ein Wunder, wenn er jetzt zu reden begänne. Aber mancher hier hofft vielleicht auf ein Wunder.
    Die Dolmetscherin übersetzt die Frage des Richters. Niemand rührt sich, auch Demjanjuk nicht. Dann, kaum merklich, es ist nur eine Andeutung, schüttelt er den Kopf und öffnet ein wenig die Lippen. Was heißt das, was er da murmelt? Die Dolmetscherin schaut zum Richter und wiederholt laut das eine Wort: «Nein.»
    Noch einmal unterbricht Ralph Alt daraufhin die Sitzung. «Die Verhandlung wird fortgesetzt um 12:30 Uhr», verkündet er. Noch einmal ziehen die Anwälte ihre Roben aus, noch einmal leert sich der Saal, zum letzten Mal. Dann schließlich, um vier Minuten nach halb eins, wird Demjanjuk im Rollstuhl zurück in den Saal A 101 geschoben, aber der Justizbeamte fährt ihn nicht zu der Krankenliege wie an allen anderen Tagen, er rollt ihn in die Mitte des Raumes, an den Zeugentisch. Zum ersten Mal in anderthalb Jahren sitzt der Angeklagte seinen Richtern Auge in Auge gegenüber.
    Und als Einziger im Saal bleibt er sitzen, als die Richter sich erheben, um ihr Urteil zu verkünden. Ralph Alt spricht mit ruhiger, nüchterner Stimme. «Der Angeklagte John Demjanjuk ist schuldig der Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Menschen. Die 1. Strafkammer des Landgerichts München II verurteilt ihn daher zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren. Der Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.»
    Demjanjuks Dolmetscherin übersetzt das Urteil, aber der Angeklagte zeigt keine Regung. Für einen Moment herrscht Stille im Saal. Die Sensation bleibt aus. Es gibt keinen Freispruch. Das Gericht ist von Demjanjuks Schuld überzeugt. Aber fünf Jahre? Zu viel für einen Greis, der schon Jahre im Gefängnis gesessen hat? Zu wenig, viel zu wenig für das Grauenhafte, das Beihilfe zum Völkermord bedeutet?
    Demjanjuk wird zurück zu seiner Liege gerollt, zwei Sanitäter drehen und heben ihn auf das Krankenbett. Reglos lässt er die Urteilsbegründung über sich ergehen. Mal öffnet er den Mund, mal schließt er ihn, die Hände liegen schwer auf der Brust.
    Der Angeklagte, davon ist das Gericht überzeugt, war Wachmann im NS-Vernichtungslager Sobibor. Alle Zweifel daran, über die seitJahrzehnten gestritten wird, halten die Richter für widerlegt. Demjanjuk, so liest Ralph Alt aus den Gründen der Entscheidung vor, sei «Teil der Vernichtungsmaschinerie» gewesen, selbst wenn man ihm keine individuelle Mordtat nachweisen könne. Ohne Männer wie ihn wäre der Holocaust nicht möglich gewesen.
    Ralph Alt spricht von den Qualen der Sterbenden in den Gaskammern. Er spricht vom Feuerschein der Leichenverbrennungen, der kilometerweit zu sehen gewesen sei, und vom Gestank des Todes, der über der ganzen Gegend gehangen habe.
    Minutenlang zählt der Vorsitzende die Transporte aus dem niederländischen Lager Westerbork auf, die in Sobibor eintrafen, als der gebürtige Ukrainer Demjanjuk dort Wachmann war. Alt nennt jeden einzelnen Zug, und er nennt die Namen jener Angehörigen der Nebenkläger, die aus den Viehwaggons ins Gas geschickt wurden. Kaum einer im Gerichtssaal, dem nicht Tränen in den Augen stehen. Alt erwähnt das älteste Opfer, einen Mann, der im Jahre 1848 geboren worden war und 1943 in Sobibor ermordet wurde, weit über neunzig Jahre alt, älter noch als Demjanjuk jetzt. «Dieser Mann hätte es verdient», sagt der Vorsitzende Richter, «in Würde zu sterben.»
    Alt erwähnt den sogenannten Kindertransport vom 11. Juni 1943, als über tausend Kinder, alle noch keine vierzehn Jahre alt, nach Osten, nach Sobibor, in den Tod geschickt wurden. Demjanjuk, auch davon ist das Gericht überzeugt, hat diese Kinder gesehen, und er hat geholfen, sie umzubringen.
    Demjanjuk habe gewusst, was er tue, und er habe es auch gewollt, sagt der Richter. Er hätte fliehen können, so wie viele andere der Henkersknechte der SS, aber er habe es nicht getan. Damit habe er sich schuldig
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