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Der erste Tod der Cass McBride

Der erste Tod der Cass McBride

Titel: Der erste Tod der Cass McBride
Autoren: Gail Giles
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wurde noch ein wenig wacher, öffnete die Augen und sah meine Mutter. Diesmal war ich es, die zu weinen anfing. Sie zog mich in ihre Arme und ich vergrub mein Gesicht in ihrer Halsgrube, wie ich es als kleines Mädchen immer getan hatte. Sie streichelte mir über das Haar und sagte: »Ich weiß. Ich verstehe dich ja, Bèbé. Du musst nichts sagen.«
    Sind unausgesprochene Worte am lautesten? Sagen sie am meisten?
    Ein großer Mann kam mich besuchen und erklärte, er sei der leitende Ermittler in meinem Fall gewesen. Er sagte, ich habe mich mit meinem Reden aus dem Grab gerettet. Vielleicht stimmte das. Aber eins wusste er nicht: Mein Reden hatte mich überhaupt erst in das Grab gebracht.
    Als mir das bewusst wurde, beschloss ich, von nun an zuzuhören.
    Also hörte ich auf, mit anderen zu reden. Es ist nicht so, dass ich nicht reden kann. Ich denke, ich weiß nicht, wann ich den Mund aufmachen sollte und wann nicht.
    Einige Zeit später wurde ich auf die psychiatrische Station verlegt. Mir gefällt es hier. Es ist sicher und ruhig. Mein Arzt sagt, ich sei in dem Grab gestorben. Ein Mensch durchlebt so etwas nicht wirklich. Ein neuer Mensch wird geboren und tritt hervor.
    Die Verbände an meinen Fingern und Zehen wurden mittlerweile entfernt. Man erklärte mir, dass Hauttransplantationen nötig waren, weil sie bis auf die Knochen zerfetzt waren. Meine Fingerspitzen sehen ganz zusammengeflickt und komisch aus.
    Aber wie konnten die Wunden so schnell verheilen? Nichts ergibt einen Sinn. Was Leute sagen, Dinge, Zeit ... es ist immer noch alles ein einziges Durcheinander.
    Zum Beispiel war Mom heute hier. Sie hat mir erzählt, dass Dad ein Haus für sie gekauft hat, damit sie in meiner Nähe bleiben kann. Er hat die Einrichtung bezahlt, aber sie alles selbst aussuchen lassen. Das ergibt so viel Sinn, wie wenn ich sagen würde, dass ich mit Mom weggehe, im Sumpf lebe, Flusskrebse serviere, Pflegekinder aufnehme und nie mehr überheblich herumzicke. Im Ernst. Dad kauft ihr vielleicht ein Haus, damit sie nach all dem Chaos in meiner Nähe bleiben kann, aber er würde sie nie im Leben die Einrichtung auswählen lassen. Also stimmen wahrscheinlich andere Sachen auch nicht.
    Meine Mutter hat Weihnachtsbäume hergebracht, kleine, fertig geschmückte Bäumchen, damit sie »in meinem Zimmer an den Festtagen für eine fröhliche Stimmung sorgen«, sagte sie - und Geschenke. Mom und Dad haben beide Geburtstagsgeschenke gebracht. Und Kuchen. Mehr als einmal. All das innerhalb von ein paar Monaten? Wollen sie mich glauben machen, dass Zeit vergangen ist, damit es mir bald besser geht?
    Es ist mir egal, wie viele Kuchen oder Weihnachtsbäume ich bekomme. Ich weiß, dass nur ein paar Monate vergangen sind, weil ich noch keine Ladung erhalten habe, um im Prozess meine Aussage zu machen.
    Kyles Prozess.
    Detective Gray ist noch mal vorbeigekommen, um mich zu beruhigen, falls ich Angst vor Kyle hätte. Ich müsse mich nicht vor ihm fürchten. Kyle war im Gefängnis, nicht einmal im allgemeinen Strafvollzug, sondern in einem Spezialtrakt, wo er eine Einzelzelle hat. Kyle verbringt seine ganze Zeit damit, in juristischen Fachbüchern einen Weg zu suchen, um seine Mutter für den Mord an David ins Gefängnis zu bringen.
    Der Psychodoktor sucht bei mir nach Anzeichen für eine Form des Stockholm-Syndroms. Also, dass ich zu Kyle eine Beziehung aufgebaut oder mich in ihn verliebt habe. Aber da kann er lange suchen. Mir ist klar, dass Kyle mit einem Monster gelebt hat, aber er hatte Wahlmöglichkeiten. Und jemand, der einen Menschen lebendig begräbt, sollte lebenslang hinter Gitter.
    Und hier läuft das Zeitding irgendwie völlig verquer. Ich weiß, dass Kyle noch nicht im Gefängnis sein kann. Ich weiß, dass es noch keinen Prozess gab. Mein einziger Weg raus aus der Kiste führte über Kyle. Und der einzige Weg, Kyle hinter Gitter zu bekommen, führt über mich. Es ist an mir, dafür zu sorgen. Ich muss zu diesem Prozess und dort aussagen. Die Geschichte erzählen. Woher sollte irgendjemand wissen, was passiert ist, wenn ich es nicht erzähle? Er hat mich in meine Kiste gesperrt und es ist an mir, ihn in seine Kiste zu sperren.
    Nachts krieche ich in den engen Metallspind in meinem Zimmer mit einem Tonbandgerät in der rechten Hand. Ich drücke den Knopf mit meinem Daumen und erzähle die Geschichte. Ich fange ganz von vorn an, damit, dass David mit mir ausgehen wollte, und erzähle sie bis zum Schluss, bis dahin, wie ich gerade das Band
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