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Der erfolgreiche Abstieg Europas

Der erfolgreiche Abstieg Europas

Titel: Der erfolgreiche Abstieg Europas
Autoren: Eberhard Sandschneider
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1989/91 hat der »Westen« aufgehört, als strategische Handlungseinheit zu existieren. Politische und strategische Perspektiven auf beiden Seiten des Atlantiks sind fundamental unterschiedlich. Das Fehlen einer gemeinsamen Bedrohungswahrnehmung wie noch zu Zeiten der Sowjetunion als gemeinsamen Gegner hat das Auseinanderdriften erheblich beschleunigt. Nur das Streben nach politischer Korrektheit oder schlichtes Verharren in den Denkmustern von gestern verbieten es, diese Tatsache offen auszusprechen. Die Sprache der Politik unterstellt eine Gemeinsamkeit, die mit den Wirklichkeiten transatlantischer Beziehungen nichts mehr zu tun hat. Die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton vermag auf dieser Klaviatur perfekt zu spielen. Die strategische Partnerschaft zwischen den USA und Europa seinie stärker gewesen als heute, verkündete sie in ihrer Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2011. Sie sei Eckpfeiler des amerikanischen Engagements in der Welt und Katalysator für globale Zusammenarbeit. Clinton wusste genau, zu wem sie sprach und was man von ihr erwartete. Das war genau die Botschaft, die die versammelte »euro-atlantische Sicherheitsgemeinschaft« alljährlich hören will. Eine Schmeichelattacke nach dem Motto: Im Westen nichts Neues.
Der »Westen« als Illusion
    Schauen wir also einen Augenblick genauer hin, denn auch unsere Diskussion beginnt wie so oft mit Begrifflichkeiten: Auch ich verwende im Folgenden aus rein pragmatischen Formulierungsgründen immer wieder den Begriff »der Westen«, um die politische, strategische und Wertegemeinschaft der Staaten zu beschreiben, die sich aus den USA und Kanada auf der einen Seite des Atlantiks und den Mitgliedstaaten von EU und NATO auf der anderen Seite zusammensetzt. Natürlich haftet dem Begriff seit jeher etwas Plakatives an. Nach den Veränderungen seit 1989 kann man seine Berechtigung als deskriptive Kategorie und erst recht als konzeptionelle Größe infrage stellen. Mit wenigen Dingen konnte der in Europa ohnehin ungeliebte ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Europäer leichter auf die Palme bringen, als mit seiner Unterscheidung zwischen einem alten und neuen Europa. Länder wie Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien und Rumänien, die man noch vor 20 Jahren als Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes ganz selbstverständlich dem »Osten« zugeordnet hätte, haben neben anderen ihren Weg nach Westen gefunden. Sie sind voll integrierte Mitglieder von EU und NATO, den beiden Institutionen, die den »Westen« am deutlichsten verkörpern. Andere Länder, wie die Türkei, fristen ein heftig debattiertes Zwitterdasein. Immer häufiger hört und liest man Formulierungen, die den »Westen« als eine Gemeinschaft von Demokratien definieren, die ihre Zusammenarbeit auf eine gemeinsame Wertegrundlage stützen. Das viel strapazierte Stichwort der »transatlantischen Wertegemeinschaft« wird in diesem Zusammenhang gerne bemüht. Nun sind Werte allerdings durchaus flüchtige Gebilde. Gesellschaftliche Grundsatzdebatten in den USA etwa um die Rolle von Religion, Abtreibung und Gesundheitspolitik wären in Europa so nicht ohne Weiteres möglich. Sie würden in ihrer Rigorosität auf Unverständnis und Ablehnung stoßen. Bei allem Beharrungsvermögen können sich solche Wertedebatten gelegentlich auch sehr schnell verändern. Insofern kann man sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass sie immer dann bemüht werden, wenn es auf der substanziellen Ebene der Politik, bei der Umsetzung gemeinsamer Interessen, kein Einvernehmen gibt. Somit zeigt der »Westen« schon auf dieser sehr grundlegenden Ebene ein bestenfalls uneinheitliches Auftreten.
    Der Wegfall der gemeinsam empfundenen Bedrohung durch die Militärpotenziale von UdSSR und Warschauer Pakt hat Auflösungserscheinungen angestoßen, die derzeit immer noch politisch schöngeredet werden. Nehmen wir nur ein besonders markantes Beispiel: Während die alten Mitglieder von EU und NATO Russland nicht mehr wirklich als Bedrohung ansehen, sieht das in den Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes aus historischen und politischen Gründen ganz anders aus. Die NATO als einer der institutionellen Kerne des Westens ist gespalten: Ihre neuen europäischen Mitglieder sind im Grundsatz transatlantisch, vor allem aber skeptisch gegenüber Russland eingestellt, ihre alten europäischen Mitglieder bleiben in unterschiedlicher Intensität transatlantisch und ihre Führungsmacht USA ist immer stärker
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