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Der erfolgreiche Abstieg Europas

Der erfolgreiche Abstieg Europas

Titel: Der erfolgreiche Abstieg Europas
Autoren: Eberhard Sandschneider
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mit Erfolg zu tun haben könnten. Unser Sprachgefühl empfindet eine solche Begriffskombination als Paradox. Ganz ähnlich reagieren gewählte Politiker. »Erfolgreicher Abstieg? – Das würde ich nie sagen!«, erklärte mir ein Bundestagsabgeordneter aus Baden-Württemberg. »Das geht doch gar nicht! Und wie soll ich das in meinem Wahlkreis erklären?« Parlamentarier können solche Paradoxa nicht gebrauchen, wenn sie wiedergewählt werden wollen (so glauben sie zumindest). Aber für die Suche nach einem besseren Verständnis für die gegenwärtigen Herausforderungen der internationalen Politik können sie hilfreich sein, um ausgetretene Pfade zu verlassen und vielleicht den Weg zu Neuland im Denken zu finden. Nun darf man gerade Metaphern nie überstrapazieren, weil immer die Gefahr der Übertreibung und der Fehleinschätzung droht. Erfolgreich ist ein Abstieg für Bergsteiger nur, wenn sie sicher unten im tiefen Tal angekommen sind. Darum geht es für den Westen nicht. In unserem Zusammenhang geht es nicht um totale, sondern um relative Abstiege. Bergsteiger wissen auch, dass man gerade bei kleineren und begehrten Gipfeln, die von vielen bestiegen werden, gut beraten ist, nach dem eigenen Gipfelerfolg ein Stück weit abzusteigen und ohne Streit mit den Nachdrängenden dort zu rasten, wo genügend Platz für alle ist. Versuchen wir es also mit der Frage, ob ein solchermaßen verstandener »Abstieg« in unseren Zusammenhang passt und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.
    Denn immerhin kann man ja auch ganz selbstbewusst fragen: Stehen wir im Westen nicht glänzend da mit unseren militärischen Potenzialen, unserer selbst nach der Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008 immer noch kaum gebrochenen Wirtschaftsstärke und unserer ständig wiederholten Selbstvergewisserung, die besten Werte von allen zu haben? Wieso sollten wir also überhaupt über Abstiege nachdenken?
    Und was genau heißt eigentlich »Erfolg«? – außer genau diese Erfolgsbilanz des Westens aufrechtzuerhalten, sie vielleicht noch zu stärken, zumindest aber alles zu tun, damit alles so bleibt, wie es ist. Gibt es überhaupt Gründe zu zweifeln, dass die Dominanz des Westens im 21. Jahrhundert ungebrochen fortbestehen kann?
    Ich will diese Position zunächst gar nicht grundsätzlich infrage stellen, wohl aber dazu beitragen, dass wir nicht vor lauter Selbstgefälligkeit über unsere Leistungen in der Vergangenheit in die Truthahn-Falle tappen.
    Truthahn-Falle? Bei Nassim Taleb kann man diese lehrreiche, aber gar nicht lustige Geschichte nachlesen: »Wir wollen uns einen Truthahn vorstellen, der jeden Tag gefüttert wird. Jede einzelne Fütterung wird die Überzeugung des Vogels stärken, dass es die Grundregel des Lebens ist, jeden Tag von freundlichen Mitgliedern der menschlichen Rasse gefüttert zu werden, die ›dabei nur sein Wohl im Auge haben ‹ , wie ein Politiker sagen würde. Am Nachmittag des Mittwochs vorm Erntedankfest wird dem Truthahn dann etwas Unerwartetes widerfahren, und er wird seine Überzeugungen revidieren müssen.« 5
    Induktionsproblem nennen Wissenschaftstheoretiker so was. Andere sprechen vielleicht eher von Überraschungsschocks. Und wie das Beispiel des Truthahns zeigt: Solche Schocks können fatale Folgen haben.
    Nach einem Jahrzehnt, in dem wir immer wieder solchen Schocks ausgesetzt waren – ein Ende ist nicht abzusehen –, ist der Befund eigentlich ganz einfach: Alles wird schneller, alles wird komplexer und alles kommt schneller anders, alswir erwartet haben. Beschleunigte Komplexität heißt die eigentliche Herausforderung unserer Zeit. Wenn das so stimmt, ist es eigentlich nur logisch, ein Umdenken, ein Denken in neuen Kategorien und Perspektiven zu fordern. Dass altes Denken nicht mehr funktioniert, ist uns mehrfach im größeren Kontext vor Augen geführt worden.
    In der wissenschaftlichen Literatur sind die unterschiedlichsten Metaphern verwendet worden, um solche Situationen zu beschreiben und zu erklären. Für Taleb ist es der Truthahn oder auch der schwarze Schwan, für Joshua Cooper Ramo 6 ist es ein Sandhaufen, der durch das berühmte letzte Sandkorn plötzlich ins Rutschen kommt, und bei Barbara Tuchman heißt das gleiche Phänomen der Unkalkulierbarkeit von Handlung und Wirkung »Torheit der Regierenden«. 7 Allen Erklärungsversuchen gemeinsam ist die Einsicht – und das Eingeständnis: Berechenbarkeit und Voraussagemöglichkeiten gibt es nicht. Erfolg verspricht wohl nur eine Strategie, die auf
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