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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
Autoren: Ursula K. LeGuin
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gegenüberliegenden Ecke aus sagte Ogion: »Komm herein, Tenar.«

Ogion
    SIE BRACHTE DAS KIND in der westlichen Nische zu Bett. Sie machte Feuer. Sie setzte sich mit untergeschlagenen Beinen neben Ogions Bett auf den Boden. »Niemand kümmert sich um dich!«
    »Ich habe sie fortgeschickt«, flüsterte er.
    Sein Gesicht war so hart und dunkel wie immer, aber das Haar war schütter und weiß, und das schwache Licht weckte keinen Funken in den Augen.
    »Du wärst womöglich allein gestorben«, stieß sie heftig hervor.
    »Hilf mir dabei«, verlangte der alte Mann.
    »Noch nicht«, bat sie, beugte sich vor, legte ihm die Stirn auf die Hand.
    »Nicht heute abend«, stimmte er zu. »Morgen.«
    Er hob die Hand und strich ihr einmal über das Haar, soviel Kraft besaß er noch.
    Sie richtete sich auf. Das Feuer brannte. Das Licht spielte auf den Wänden und an der niedrigen Decke und schickte die Schatten in die Ecken des langen Raums, in denen sie sich verdichteten.
    »Wenn Ged käme«, murmelte der alte Mann.
    »Hast du ihm eine Nachricht gesandt?«
    »Verschwunden«, sagte Ogion. »Er ist verschwunden. Eine Wolke. Nebel über dem Land. Er ist in den Westen gezogen. Mit dem Ast des Ebereschenbaums. In den dunklen Nebel. Ich habe meinen Falken verloren.«
    »Nein, nein, nein«, flüsterte sie. »Er wird wiederkommen.«
    Sie schwiegen. Die Wärme des Feuers durchdrang beide, bis sich Ogion entspannte, abwechselnd einschlief und aufwachte und Tenar nach dem langen Tag die Ruhe als angenehm empfand. Sie rieb sich die Füße und die schmerzenden Schultern. Sie hatte Therru während des letzten Anstiegs ein Stück getragen, weil das Kind vor Müdigkeit keuchte, als es mit ihr Schritt halten wollte.
    Tenar stand auf, erhitzte Wasser und wusch sich den Staub der Straße ab. Sie erwärmte Milch, aß vom Brot, das sie in Ogions Vorratsschrank fand, und setzte sich wieder zu ihm. Während er schlief, dachte sie nach, beobachtete sein Gesicht, den Feuerschein und die Schatten.
    Sie dachte daran, wie ein Mädchen vor langer Zeit und weit entfernt von hier schweigend, nachdenkend, in der Nacht gesessen hatte, ein Mädchen in einem fensterlosen Raum, das sich selbst nur als diejenige kannte, die verzehrt worden war, Priesterin und Dienerin der Mächte der Dunkelheit auf der Erde. Und es hatte eine Frau gegeben, die in der friedlichen Stille eines Baumhauses aufblieb, wenn Mann und Kinder schliefen, um nachzudenken, um eine Stunde lang allein zu sein. Und es gab die Witwe, die ein verbranntes Kind hierhergetragen hatte, die bei dem Sterbenden saß, die darauf wartete, daß ein Mann zurückkehrte. Wie alle Frauen, wie jede Frau; sie tat, was Frauen tun. Doch Ogion hatte sie nicht mit dem Namen der Dienerin oder der Frau oder der Witwe angesprochen. Auch Ged hatte es in der Finsternis der Gräber nicht getan. Vor langer Zeit – weiter zurückliegend als alles andere – hatte es auch ihre Mutter nicht getan, die Mutter, die sie nur als die Wärme und die Löwenfarbe des Feuerscheins in Erinnerung hatte, die Mutter, die ihr ihren Namen gegeben hatte.
    »Ich bin Tenar«, flüsterte sie. Das Feuer erfaßte einen trockenen Fichtenast und sprang mit einer leuchtendgelben Flammenzunge in die Höhe.
    Ogions Atem ging unruhig, und er rang nach Luft. Sie half ihm, so gut sie konnte, bis er sich etwas wohler fühlte. Sie schliefen eine Weile, sie döste neben seinen benommenen, dahinsterbenden Gedanken, die von fremden Worten unterbrochen wurden. Einmal in der Tiefe der Nacht sagte er laut, als träfe er einen Freund auf der Straße: »Du bist also da? Hast du mit ihm gesprochen?« Und als Tenar sich erhob, um Holz nachzulegen, begann er wieder zu reden, aber diesmal schien er mit jemandem in seiner Erinnerung über längst vergangene Jahre zu sprechen, denn er sagte so deutlich wie ein Kind: »Ich habe versucht, ihr zu helfen, aber das Dach des Hauses fiel auf sie. Es war das Erdbeben.« Tenar lauschte. Auch sie hatte Erdbeben erlebt. »Ich versuchte zu helfen«, sagte der Junge in der Stimme des Mannes voller Schmerz. Dann begann der keuchende Kampf um das Atmen von neuem.
    Im Morgengrauen wurde Tenar von einem Geräusch geweckt, das sie zuerst für das Meer hielt. Es war ein mächtiges Flügelrauschen. Eine Vogelschar flog niedrig über sie hinweg, so zahlreich, daß die Flügel wie Sturm brausten und die raschen Schatten das Fenster verdunkelten. Es hörte sich an, als würden sie das Haus einmal umkreisen und zögen dann weiter. Sie stießen
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