Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
mindestens zweierlei – und für gewöhnlich mehr«, bestätigte Tenar. »Aber ich bin hier.«
    Er nickte.
    Er schwieg lange und lehnte mit geschlossenen Augen am Baumstamm. Tenar, die sein Gesicht beobachtete, sah, wie es sich ebenso langsam veränderte wie das Licht im Westen.
    Er öffnete die Augen und blickte durch eine Lücke im Dickicht zum westlichen Himmel hinauf. In diesem fernen, klaren, goldenen Raum aus Licht schien er etwas zu beobachten, eine Handlung oder Tat. Er flüsterte zögernd, als sei er unsicher: »Der Drache …«
    Die Sonne war untergegangen, der Wind eingeschlafen.
    Ogion sah Tenar an.
    »Vorbei«, flüsterte er frohlockend. »Alles hat sich verändert! … Verändert, Tenar! Warte … warte hier, auf …« Ein Schütteln erfaßte seinen Körper und beutelte ihn wie den Ast eines Baums bei starkem Wind. Er keuchte. Die Augen schlossen und öffneten sich, blickten über sie hinaus. Er legte die Hand auf die ihre; sie beugte sich zu ihm; er sagte ihr seinen Namen, damit man ihn nach seinem Tod wahrhaftig kannte.
    Er faßte nach ihrer Hand, schloß die Augen und nahm noch einmal den Kampf um das Atmen auf, bis es keinen Atem mehr gab. Er lag da wie die Wurzeln des Baums, während die Sterne herauskamen und durch die Blätter und Äste des Waldes schimmerten.
    Tenar saß in der Dämmerung und der Dunkelheit bei dem Toten. Jenseits der Wiese leuchtete eine Laterne wie ein Glühwürmchen. Sie hatte die Wolldecke über ihn und sich gelegt, aber ihre Hand, die die seine hielt, war kalt geworden, als hielte sie einen Stein. Sie berührte noch einmal mit der Stirn seine Hand. Dann erhob sie sich steif und schwindlig, ihr Körper fühlte sich fremd an, und sie ging demjenigen entgegen, der mit dem Licht kam, um ihn zu begrüßen und zu führen.
    In dieser Nacht wachten Ogions Nachbarn bei ihm, und er schickte sie nicht fort.
    Das Herrenhaus des Fürsten von Re Albi stand auf einer Felsplatte, die am Berghang oberhalb des Oberfell aus der Erde ragte. Zeitig am Morgen, lange bevor die Sonne über den Berg gestiegen war, kam der in den Diensten dieses Herrn stehende Zauberer durch das Dorf; und sehr bald danach quälte sich ein weiterer Zauberer die steile Straße von Gonthafen herauf; er war schon in der Dunkelheit aufgebrochen. Sie hatten gehört, daß Ogion im Sterben lag, oder ihre Macht war so groß, daß sie wußten, wann ein großer Magier starb.
    Das Dorf Re Albi besaß keinen Zauberer, nur seinen Magier, und eine Hexe mußte die niedrigeren Arbeiten wie Finden, Heilen und Knocheneinrichten besorgen, womit die Menschen den Magier nicht belästigen wollten. Tantchen Moor war ein mürrisches Geschöpf, unverheiratet wie die meisten Hexen und ungewaschen. Ihre ergrauenden Haare waren zu seltsamen Zauberknoten geknüpft, und ihre Augen waren vom Räuchern der Kräuter gerötet. Sie war mit der Laterne über die Wiese gekommen, und sie hatte in dieser Nacht mit Tenar und den übrigen bei Ogion gewacht. Sie hatte im Wald eine Wachskerze unter einen Lampenschirm gestellt und hatte duftende Öle auf einem Tonteller verbrannt; sie hatte die Worte gesprochen, die gesprochen werden mußten, und getan, was getan werden mußte. Als es soweit war, daß sie den Körper berühren mußte, um ihn für das Begräbnis vorzubereiten, hatte sie Tenar angesehen, als bitte sie um Erlaubnis, und war dann mit der Erfüllung ihrer Pflichten fortgefahren. Die Dorfhexen kümmerten sich für gewöhnlich um das Heimsenden der Toten, wie man es nannte, und oft um das Begräbnis.
    Als der Zauberer vom Herrenhaus herunterkam, ein hochgewachsener junger Mann mit einem silberschimmernden Stab aus Fichtenholz, und der Zauberer von Gonthafen heraufkam, ein kräftiger Mann in mittleren Jahren mit einem kurzen Eibenstab, sah Tantchen Moor sie nicht mit ihren blutunterlaufenen Augen an, sondern duckte und verbeugte sich, sammelte ihre armseligen Zaubermittel und ihr Hexenzeug ein und zog sich zurück.
    Als sie die Leiche so hingelegt hatte, wie sie liegen mußte, um begraben zu werden – mit angezogenen Knien und auf der linken Seite –, hatte sie in die nach oben gerichtete linke Hand ein winziges Zauberbündel gelegt, einen Gegenstand, der in weiche Ziegenhaut gehüllt und mit farbiger Kordel zusammengebunden war. Der Zauberer von Re Albi schnippte es mit der Spitze seines Stabes weg.
    »Ist das Grab ausgehoben?« fragte der Zauberer von Gonthafen.
    »Ja«, erwiderte der Zauberer von Re Albi. »Es wurde auf dem Friedhof des
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher