Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
ihnen. Die Männer hatten ihr Macht gegeben, die Männer hatten die Macht mit ihr geteilt. Die Frauen betrachteten sie von außen, manchmal als Rivalinnen, manchmal auch mit einer Spur von Spott.
    Sie hatte sich als Außenseiterin, als Ausgeschlossene gefühlt. Sie war vor den Mächten der Wüstengräber geflohen und hatte dann die Macht des Wissens und der Kenntnisse abgegeben, die ihr Ogion anbot, ihr Beschützer. Sie hatte allem den Rücken gekehrt, war auf die andere Seite, in den anderen Raum gegangen, wo die Frauen lebten, um eine von ihnen zu sein. Eine Frau, die Frau eines Bauern, eine Mutter, eine Haushälterin, die die Macht übernahm, für die eine Frau geboren war, die Autorität, die ihr die Gliederung der Menschheit zuwies.
    Dort im Mitteltal war Flints Frau Goha willkommen gewesen unter den Frauen; natürlich war sie eine weißhäutige und etwas seltsam sprechende Fremde, aber eine tüchtige Hausfrau, eine flinke Spinnerin, mit sittsamen, wohlerzogenen Kindern und einem blühenden Anwesen: ehrbar. Und für die Männer war sie Flints Frau, die tat, was eine Frau zu tun hatte: Bett, Nachkommenschaft, Backen, Kochen, Putzen, Spinnen, Nähen, Dienen. Eine gute Frau. Sie achteten sie. Schließlich ging es Flint gut, meinten sie. Ich möchte wissen, wie eine weiße Frau aussieht – überall weiß? fragten ihre Augen, wenn sie sie ansahen, bis sie älter wurde und die Männer sie nicht mehr ansahen.
    Hier war alles anders, alles das gab es hier nicht. Seit sie mit der alten Moor bei Ogion gewacht hatte, zeigte die Hexe deutlich, daß sie Tenars Freundin, Anhängerin, Dienerin sein würde – was immer diese wollte. Tenar wußte nicht genau, wozu Tantchen Moor tauglich sein wollte, weil sie sie für unberechenbar, unzuverlässig, unverständlich, leidenschaftlich, dumm, schlau und schmutzig hielt. Aber Tantchen Moor vertrug sich mit dem verbrannten Kind. Vielleicht bewirkte die alte Moor diese Veränderung, diese geringfügige Entspannung bei Therru. Therru benahm sich ihr gegenüber, so wie sie sich allen gegenüber benahm – ausdruckslos, reaktionslos, gefügig, so wie etwas Lebloses, ein Stein, gefügig ist. Aber die alte Frau hatte nicht aufgegeben, hatte ihr kleine Süßigkeiten und Schätze angeboten, hatte sie bestochen, sie beschwatzt, ihr geschmeichelt. »Komm mit Tante Moor, Schätzchen. Komm mit, und Tante Moor wird dir etwas Hübsches zeigen, wie du es noch nie gesehen hast …«
    Die Nase der Hexe ragte über die zahnlosen Kiefer und die dünnen Lippen hinaus; auf der Wange hatte sie eine Warze von der Größe eines Kirschkerns; das Haar war ein grauschwarzes Gewirr aus Zauberknoten und Strähnen; und sie roch genauso stark, derb, intensiv und kompliziert wie ein Fuchsbau. ›Komm mit in den Wald, Schätzchen!‹ lockten die alten Hexen in den Märchen, die man den Kindern von Gont erzählte. ›Komm mit, und ich werde dir etwas ganz Hübsches zeigen!‹ Und dann schob die Hexe das Kind in den Backofen, briet es braun und aß es oder warf es in den Brunnen, wo es für ewige Zeiten herumhüpfte und unglücklich quakte, oder ließ es hundert Jahre lang in einem großen Stein schlafen, bis der Königssohn, der Magier-Prinz kam, der den Stein mit einem Wort zerspringen ließ, die Jungfrau mit einem Kuß weckte und die böse Hexe erschlug …
    »Komm mit mir, Schätzchen!« Sie führte das Kind auf die Felder und zeigte ihm das Nest einer Lerche im grünen Gras oder in die Marschen, wo sie weißen Holunder, wilde Minze und Blaubeeren sammelten. Sie mußte das Kind nicht in einen Backofen sperren oder in ein Ungeheuer verwandeln, oder in Stein einschließen. Das alles war bereits geschehen.
    Sie war freundlich zu Therru, aber es war eine schmeichlerische Freundlichkeit, und wenn sie zusammen waren, sprach sie sehr viel mit dem Kind. Tenar wußte nicht, was die alte Moor dem Kind erzählte oder beibrachte und ob sie der Hexe erlauben sollte, den Kopf des Kindes mit Unsinn zu füllen. Schwach wie die Magie einer Frau, böse wie die Magie einer Frau, das hatte sie hundertmal gehört. Sie hatte tatsächlich gesehen, daß die Hexenkunst von Frauen wie Moor oder Eppich oft sinnlos und manchmal aus Absicht oder Unwissen böse war. Obwohl die Dorfhexen viele Zaubersprüche und Zauberworte und einige der großen Gesänge kannten, waren sie nie in der Hohen Kunst oder den Grundsätzen der Zauberei ausgebildet worden. Keine Frau wurde dafür ausgebildet. Zaubern war Männerarbeit, eine Fähigkeit der Männer;
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher