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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Magie wurde von Männern gemacht. Es hatte nie einen weiblichen Magier gegeben. Obwohl einige wenige sich halb leichtfertig, halb gefährlich als Zauberinnen oder Magierinnen bezeichnet hatten, war ihre Macht unausgebildet gewesen, Stärke ohne Kunst und Kenntnisse.
    Die gewöhnlichen Dorfhexen wie Tantchen Moor lebten von einigen wenigen Worten der Wahren Sprache, die ältere Hexen als großen Schatz hinterlassen oder die sie für einen hohen Preis von Zauberern gekauft hatten. Außerdem besaßen sie einen Vorrat an gebräuchlichen Zaubersprüchen zum Suchen und Heilen, bedeutungslosen Ritualen, Geheimniskrämerei, dummem Geschwätz, eine solide, auf Erfahrung beruhende Ausbildung in Geburtshilfe, Einrichten von Knochen, Behebung von Beschwerden bei Mensch und Tier, eine umfassende Kenntnis von Kräutern sowie eine Menge Aberglauben – und das alles entsprang der angeborenen Fähigkeit, zu heilen, zu psalmodieren, die Gestalt zu wechseln oder jemanden mit einem Zauberbann zu belegen. Dieses Gemisch konnte sich gut oder schlecht auswirken. Manche Hexen waren böse, verbitterte Frauen, die bereit waren, Schaden anzurichten, und keinen Grund darin sahen, dies nicht zu tun. Die meisten waren Hebammen und Heilerinnen, die nebenbei über ein paar Liebestränke, Fruchtbarkeitszauber und Potenzzauber sowie über eine gehörige Portion Zynismus verfügten. Einige wenige, die Weisheit, aber keine Gelehrsamkeit besaßen, benutzten ihre Gabe ausschließlich zum Guten, obwohl sie im Gegensatz zu jedem Zauberlehrling nicht erklären konnten, warum sie etwas taten, und ihr Eingreifen oder ihr Nichteingreifen mit Gewäsch über das Gleichgewicht und die Wege der Macht rechtfertigten. Als Tenar Ogions Schützling und Schülerin gewesen war, hatte eine dieser Frauen zu Tenar gesagt: »Ich folge meinem Herzen. Lord Ogion ist ein großer Zauberer. Er erweist dir eine große Ehre, indem er dich unterrichtet. Aber überleg einmal, Kind, ob alles, was er dich gelehrt hat, letzten Endes nicht darin besteht, deinem Herzen zu folgen.«
    Tenar hatte schon damals gefunden, daß die weise Frau recht und doch nicht ganz recht hatte; etwas fehlte. Dieser Ansicht war sie heute noch.
    Wenn sie Tantchen Moor und Therru beobachtete, dachte sie, daß Moor ihrem Herzen folgte, daß es aber ein dunkles, wildes, sonderbares Herz war, wie eine Krähe, die ihren eigenen Geschäften auf eigenen Wegen nachgeht. Und sie dachte, daß nicht nur Güte Tantchen Moor zu Therru zog, sondern auch Therrus Verletzung, der Schaden, der ihr zugefügt worden war: durch Gewalt, durch Feuer.
    Doch alles, was Therru tat oder sagte, zeigte, daß sie von Tantchen Moor nur lernte, wo die Lerche ihr Nest hatte und wo die Blaubeeren wuchsen und wie man ein Abnehmespiel mit einer Hand spielt. Das Feuer hatte Therrus rechte Hand so sehr zerfressen, daß sie zu einer Art Keule verheilt war und sie den Daumen nur als Greifzange wie die Schere einer Krabbe verwenden konnte. Doch Tantchen Moor kannte erstaunlich viele Abnehmespiele für vier Finger und einen Daumen, und Reime zu den Figuren:
    Wirble, wirble, röte alles!
    Brenne, brenne, begrabe alles!
    Komm, Drache, komm!
    Und die Schnur bildete vier Dreiecke, die sich mit einem Ruck in ein Quadrat verwandelten … Therru sang nie laut, aber Tenar hörte, wie sie leise den Vers flüsterte, während sie allein auf der Schwelle des Magierhauses saß und die Figuren bildete.
    Tenar fragte sich, was – außer Mitleid, außer der Pflicht Hilflosen gegenüber – sie an das Kind band. Wenn Tenar sie nicht genommen hätte, so hätte Lerche sie behalten. Aber Tenar hatte sie genommen, ohne sich auch nur zu fragen, warum. War sie ihrem Herzen gefolgt? Ogion hatte nichts über das Kind erfahren wollen, aber er hatte gesagt: »Sie werden sie fürchten.« Und Tenar hatte wahrheitsgemäß geantwortet: »Sie tun es.« Vielleicht fürchtete sie das Kind, wie sie Grausamkeit, Vergewaltigung und Feuer fürchtete. War Angst das Band, das sie festhielt?
    »Goha«, fragte Therru, die unter dem Pfirsichbaum auf den Fersen saß und zu der Stelle in der harten Sommererde hinübersah, wo sie den Pfirsichkern gepflanzt hatte, »was sind Drachen?«
    »Große Geschöpfe«, antwortete Tenar, »wie Eidechsen, aber länger als ein Schiff – größer als das Haus. Mit Flügeln wie Vögel. Sie atmen Feuer aus.«
    »Kommen sie hierher?«
    »Nein.«
    Therru stellte keine weiteren Fragen.
    »Hat dir Tantchen Moor von Drachen erzählt?«
    Therru schüttelte den
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