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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
Autoren: Ursula K. LeGuin
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er gewußt hatte; aber welche Veränderung? Meinte er seinen eigenen Tod, sein eigenes Leben, das vorüber war? Er hatte voll Freude, frohlockend gesprochen. Er hatte ihr zu warten aufgetragen.
    Was habe ich sonst zu tun? fragte sie sich, während sie den Boden des Hauses fegte. Habe ich jemals etwas anderes getan? Und sie fragte ihre Erinnerung an ihn: Soll ich hier warten, in deinem Haus?
    Ja, erwiderte Aihal der Schweigsame schweigend und lächelnd.
    Sie fegte also das Haus, säuberte den Herd und lüftete die Matratzen. Sie warf angeschlagenes Geschirr und einen tropfenden Topf weg, aber sie behandelte alle Gegenstände sanft. Sie legte sogar die Wange an einen gesprungenen Teller, als sie ihn hinaus auf den Abfallhaufen trug, denn er stellte einen Beweis dafür dar, daß der alte Magier seit einem Jahr krank gewesen war. Er hatte enthaltsam und so einfach gelebt wie ein armer Bauer, aber solange seine Augen klar waren und er seine Stärke besaß, hätte er nie von einem zerbrochenen Teller gegessen oder einen Topf nicht flicken lassen. Diese Zeichen seiner Schwäche bekümmerten sie, und es tat ihr leid, daß sie nicht bei ihm gewesen war und für ihn gesorgt hatte.
    Das hätte ich gern getan, sagte sie zu seinem Bild in ihrem Gedächtnis, aber er antwortete nicht. Er hatte nie gewollt, daß sich jemand außer ihm selbst um sein Wohl kümmerte. Ob er sie gefragt hätte: Hast du nichts Besseres zu tun? Sie wußte es nicht. Er schwieg. Aber sie war jetzt sicher, daß sie richtig gehandelt hatte, als sie beschloß, hier, in diesem Haus zu bleiben.
    Shandy und ihr alter Mann Reinbach, der länger als Tenar auf einer Farm im Mitteltal lebte, würden sich um die Herden und den Obstgarten kümmern; das zweite Paar auf der Farm, Tiff und Sis, würden die Ernte einbringen. Der Rest mußte eine Zeitlang selbst für sich sorgen. Die Kinder aus der Nachbarschaft würden ihre Himbeerstauden leerpflücken. Das war bitter; sie liebte Himbeeren. Hier oben auf dem Oberfell, wo ständig der Wind vom Meer herüberwehte, war es für Himbeeren zu kalt. Aber Ogions kleiner alter Pfirsichbaum in dem geschützten Winkel der südseitigen Hauswand trug achtzehn Pfirsiche, und Therru beobachtete sie wie eine Katze auf Mäusejagd, bis sie eines Tages hereinkam und mit ihrer heiseren, undeutlichen Stimme meldete: »Zwei Pfirsiche sind ganz rot und gelb.«
    »Ah«, sagte Tenar. Sie gingen zusammen zu dem Pfirsichbaum, pflückten die beiden ersten reifen Pfirsiche und aßen sie an Ort und Stelle ungeschält. Der Saft floß ihnen über das Kinn. Sie leckten sich die Finger ab.
    »Kann ich ihn einsetzen?« fragte Therru, die den schrundigen Kern ihres Pfirsichs betrachtete.
    »Ja. Der Platz in der Nähe des alten Baums ist gut. Aber nicht zu nahe. Damit beide Raum für ihre Wurzeln und Äste haben.«
    Das Kind wählte einen Platz und grub das winzige Grab. Es legte den Kern hinein und bedeckte ihn mit Erde. Tenar sah ihm zu. In den wenigen Tagen, seit sie hier lebten, hatte sich Therru verändert. Sie war noch immer teilnahmslos, zeigte keinen Zorn, keine Freude; aber seit sie hier waren, hatten sich ihre schreckliche Wachsamkeit, ihre Unbeweglichkeit beinahe unmerklich entspannt. Sie hatte die Pfirsiche begehrt und daran gedacht, den Kern einzusetzen, um die Zahl der Pfirsichbäume auf der Welt zu vergrößern. Auf dem Eichenhof hatte sie nur vor zwei Menschen keine Angst gehabt – vor Tenar und Lerche; aber hier hatte sie sich mühelos an Heide angeschlossen, die Ziegenhirtin von Re Albi, eine geistig zurückgebliebene Zwanzigjährige mit lauter Stimme, die das Kind beinahe wie eine ihrer Ziegen, ein lahmes Kitz, behandelte. Das war gut so. Und Tantchen Moor war ebenfalls gut, ganz gleich, wie sie roch.
    Als Tenar vor fünfundzwanzig Jahren zum erstenmal in Re Albi gelebt hatte, war Tantchen Moor keine alte, sondern eine junge Hexe gewesen. Sie hatte sich geduckt, verbeugt, und ›die junge Lady‹, ›die weiße Lady‹, Ogions Schützling und Schülerin, angegrinst und nur überaus achtungsvoll mit ihr gesprochen. Tenar hatte gespürt, daß diese Achtung gespielt war, eine Maske für Neid, Abneigung und Mißtrauen, die ihr von Frauen nur zu bekannt war, denen gegenüber sie eine höhere Stellung einnahm; diese Frauen betrachteten sich als das Übliche und Tenar als das Unübliche, als eine Bevorzugte. Als Priesterin der Gräber von Atuan oder als ausländischer Schützling des Magiers von Gont unterschied sie sich von ihnen, stand über
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