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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
Autoren: Ursula K. LeGuin
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gesagt: »Eine Zeit, in der solches geschieht, muß eine Zeit der Zerstörung, das Ende eines Zeitalters sein. Wie viele hundert Jahre ist es her, daß es in Havnor einen König gegeben hat? So kann es nicht weitergehen. Wir müssen uns wieder dem Mittelpunkt zuwenden, oder wir sind verloren, Insel gegen Insel, Mann gegen Mann, Vater gegen Kind …« Er hatte sie angesehen, ein wenig schüchtern, aber mit seinem klaren, klugen Blick. »Der Ring von Erreth-Akbe ist an seinen Platz im Turm von Havnor zurückgekehrt«, sagte er. »Ich weiß, wer ihn dorthin brachte … Das war das Zeichen, das war sicherlich das Zeichen, daß das neue Zeitalter kommt. Aber wir haben es nicht verwirklicht. Wir haben keinen König. Wir haben keinen Mittelpunkt. Wir müssen unser Herz, unsere Stärke wiederfinden. Vielleicht wird der Oberste Magier endlich handeln.« Er fügte voll Zuversicht hinzu: »Schließlich stammt er aus Gont.«
    Aber es war keine Nachricht über eine Tat des Obersten Magiers oder über einen Erben für den Thron in Havnor gekommen; und alles blieb so schlecht wie bisher.
    Deshalb beobachtete Goha mit Angst und grimmigem Zorn, daß die vier Männer auf der Straße vor ihr zu zweit rechts und links an den Straßenrand traten, so daß sie und das Kind zwischen ihnen hindurchgehen mußten.
    Während sie unbeirrt weiterschritten, hielt sich Therru sehr nahe bei ihr und hatte den Kopf gesenkt, aber sie faßte nicht nach Gohas Hand.
    Einer der Männer, ein breitschultriger Kerl mit struppigen schwarzen Haaren auf der Oberlippe, die ihm über den Mund hingen, grinste ein wenig und begann zu sprechen. »He, ihr da«, sagte er, aber Goha sprach gleichzeitig und lauter. »Aus dem Weg!« befahl sie und hob ihren Erlenstock, als wäre es der Stab eines Zauberers. »Ich habe mit Ogion zu sprechen!« Sie trat zwischen die Männer und ging geradewegs weiter, und Therru trottete neben ihr her. Die Männer, die Beherztheit mit Hexenkunst verwechselten, blieben stehen. Vielleicht besaß Ogions Name noch Macht. Vielleicht aber besaßen Goha oder das Kind Macht. Denn als die beiden vorbei waren, fragte einer der Männer: »Habt ihr das gesehen?« Er spuckte aus und machte das Zeichen zur Abwehr des Bösen.
    »Eine Hexe und ihre Mißgeburt«, meinte ein anderer. »Laßt sie gehen!«
    Ein dritter, ein Mann mit Ledermütze und Weste, blieb einen Augenblick lang stehen und starrte vor sich hin, während die anderen weiterstapften. Sein Gesicht wirkte blaß und unglücklich; er wollte sich umdrehen und der Frau und dem Kind folgen, als ihn der Mann mit der behaarten Lippe rief: »Komm schon, Flinko!« Und er gehorchte.
    Als sie um die Biegung der Straße und aus dem Blickfeld der Gaffer gelangt waren, hatte Goha Therru hochgehoben und war mit ihr weitergehastet, bis sie sie auf den Boden stellen mußte und keuchend stehenblieb. Das Kind stellte keine Fragen und versuchte nicht, einen Aufschub zu erreichen. Sobald Goha weitergehen konnte, lief das Kind, so rasch es konnte, neben ihr her und hielt ihre Hand.
    »Du bist rot«, sagte Therru. »Wie Feuer.«
    Sie sprach selten und nicht deutlich, weil ihre Stimme sehr heiser war, aber Goha verstand sie.
    »Ich bin zornig«, erklärte Goha mit einem halben Lachen. »Wenn ich zornig bin, werde ich rot. Wie ihr Leute, ihr roten Leute, ihr Barbaren aus den westlichen Ländern … Schau, dort liegt ein Ort vor uns, das ist Eichenbrunn. Es ist das einzige Dorf an dieser Straße. Wir werden dort haltmachen und ein wenig ausruhen. Vielleicht bekommen wir Milch. Dann können wir weitergehen, und wenn du dir den Weg bis zum Falkennest zutraust, werden wir es hoffentlich bis zum Einbruch der Nacht bis dorthin schaffen.«
    Das Kind nickte. Goha öffnete den Beutel mit Rosinen und Walnüssen und aß einige. Dann schleppten sie sich weiter.
    Die Sonne war längst untergegangen, als sie durch das Dorf und zu Ogions Haus oben auf der Klippe kamen. Im Westen schimmerten die ersten Sterne oberhalb einer dunklen Wolkenmasse über dem hohen Horizont des Meeres. Der Meereswind wehte und beugte die kurzen Gräser. Das einzige Fenster leuchtete mattgelb.
    Goha lehnte ihren Stock und den von Therru an die Wand neben der Tür, ergriff die Hand des Kindes und klopfte einmal.
    Niemand antwortete.
    Sie stieß die Tür auf. Das Feuer auf dem Herd war erloschen, nur Schlacke und graue Asche, aber eine Öllampe auf dem Tisch enthielt einen winzigen Samen Licht, und von seiner Matratze auf dem Boden in der
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