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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
Autoren: Ursula K. LeGuin
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an, daß sie ein Gestaltwechsler war, aber er wußte nicht, ob sie eine Frau war, die sich in einen Drachen verwandeln, oder ein Drache, der sich in eine Frau verwandeln konnte. Deshalb fragte er sie schließlich: ›Seid Ihr eine Frau oder ein Drache?‹ Sie antwortete nicht darauf, sondern erwiderte: ›Ich werde Euch eine Geschichte vorsingen, die ich kenne‹.«
    Therru hatte einen kleinen Stein im Schuh. Sie blieben stehen, um ihn herauszuholen, und gingen sehr langsam weiter, denn die Straße stieg steil zwischen den behauenen Steinböschungen an, über denen dichtes Buschwerk hing, in dem die Zikaden in der Sommerhitze sangen.
    »Dies ist die Geschichte, die sie ihm, Ogion, vorsang.
    Als Segoy zu Anbeginn der Zeit die Inseln der Welt aus dem Meer hob, waren die Drachen die ersten, die aus dem Land und dem über das Land wehenden Wind geboren wurden. Das berichtet das Lied des Erschaffens. Aber ihr Lied erzählte auch, daß damals, zu Anbeginn, Drachen und Menschen eins waren. Sie waren alle ein Volk, eine Rasse, geflügelt, und sprachen die Wahre Sprache.
    Sie waren schön, stark, weise und frei.
    Doch in der Zeit kann nichts sein, ohne zu werden. So wurden viele vom Drachenvolk immer verliebter in das Fliegen und die Wildheit und wollten immer weniger und weniger mit dem Erschaffen, mit dem Studieren und Lernen oder mit Häusern und Städten zu tun haben. Sie wollten immer nur weiter und weiter fliegen, unwissend und unbekümmert jagen und ihre Beute essen, und sie suchten immer mehr Freiheit.
    Anderen vom Drachenvolk wurde das Fliegen immer gleichgültiger; sie sammelten statt dessen Schätze, Reichtum, Geschaffenes, Gelerntes. Sie bauten Häuser, Festungen, in denen sie ihre Schätze aufbewahrten, damit sie alles, was sie erwarben, an ihre Kinder weitergeben konnten, und suchten stets mehr Zuwachs. Mit der Zeit fürchteten sie die Wilden, die geflogen kamen und ihren geliebten Hort vernichteten, ihn aus reiner Unachtsamkeit und Wildheit mit einem Feuerhauch verbrennen konnten.
    Die Wilden fürchteten nichts. Sie lernten nichts. Weil sie unwissend und furchtlos waren, konnten sie sich nicht retten, als die Nichtgeflügelten sie wie Tiere fingen und töteten. Aber andere Wilde kamen geflogen, setzten die schönen Häuser in Brand, zerstörten und töteten. Die stärksten unter den Wilden und den Weisen waren die ersten, die einander töteten.
    Jene, die sich am meisten fürchteten, versteckten sich während der Kämpfe, und wenn sie sich nicht mehr verstecken konnten, flohen sie. Sie benutzten ihre Fähigkeit des Erschaffens, bauten Boote und segelten nach Osten, fort von den Westlichen Inseln, wo die großen Geflügelten zwischen den zerstörten Türmen Krieg führten. So veränderten sich jene, die sowohl Drachen als auch Menschen gewesen waren, und wurden zu zweierlei Wesen: den immer weniger und wilder werdenden, durch ihre endlose, gedankenlose Gier und ihren Zorn zerstreuten Drachen auf den fernen Inseln des Westbereichs, und dem Menschen-Volk, das in seinen reichen Orten und Städten immer zahlreicher wurde und die Inneren Inseln und den ganzen Süden und Osten füllte. Doch unter den Menschen gab es einige, die das Wissen der Drachen – die Wahre Sprache des Erschaffens – retteten, und diese sind jetzt die großen Zauberer.
    Es gibt aber auch jene unter uns, sagt das Lied, die wissen, daß sie einmal Drachen solche, und unter den Drachen gibt es solche, die wissen, daß sie mit uns verwandt sind. Und diese erzählen, daß damals, als aus einem Volk zwei wurden, einige von ihnen, die noch beides waren – Menschen und Drachen und noch geflügelt –, nicht nach Osten, sondern nach Westen zogen, über das Offene Meer hinweg, bis sie zur anderen Seite der Welt gelangten. Dort leben sie in Frieden, große, geflügelte, wilde und weise Wesen, mit dem Verstand der Menschen und dem Herz der Drachen. Und so sang sie:
    Weiter westlich als der Westen
    jenseits des Landes
    tanzt mein Volk
    auf dem anderen Wind.
    Das war die Geschichte, die das Lied der Frau aus Kemay erzählte, und sie schloß mit diesen Worten.
    Ogion sagte zu ihr: ›Als ich Euch erblickte, sah ich Euer wahres Wesen. Die Frau, die mir jenseits des Herdes gegenübersitzt, ist nicht mehr als das Kleid, das sie trägt.‹
    Aber sie schüttelte den Kopf, lachte und sagte nur: ›Wenn es so einfach wäre!‹
    Nach einer Weile kehrte Ogion nach Re Albi zurück. Als er mir die Geschichte erzählte, sagte er zu mir: ›Seit jenem Tag frage ich
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