Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
mich, ob jemand, Mensch oder Drache, weiter westlich als der Westen gewesen ist; wer wir sind und wo unsere Ganzheit liegt.‹ … Bist du hungrig, Therru? Dort oben, wo die Straße die Biegung macht, sieht es so aus, als gäbe es einen guten Rastplatz. Vielleicht sind wir imstande, von dort aus den Hafen von Gont unten am Fuß des Berges zu sehen. Es ist eine große Stadt, größer noch als Thalmund. Wir werden uns hinsetzen, wenn wir die Biegung erreichen, und ein wenig rasten.«
    Von der hohen Biegung der Straße aus konnten sie tatsächlich über die weiten Hänge mit Wald und felsigen Wiesen zu der Stadt an der Bucht hinunterblicken, sahen die Klippen, die die Einfahrt zur Bucht bewachten, und die Boote auf dem dunklen Wasser wie Holzspäne oder Wasserkäfer. Weit vorn an ihrer Straße und noch etwas oberhalb davon ragte ein Felsen aus dem Berghang: der Oberfell, auf dem das Dorf Re Albi lag, das Falkennest.
    Therru jammerte nicht, aber als Goha fragte: »Wollen wir weitergehen?«, schüttelte das Kind, das zwischen der Straße und den Tiefen des Himmels und des Meeres saß, den Kopf. Die Sonne schien warm, und sie hatten seit dem Frühstück im Tal eine lange Strecke zurückgelegt.
    Goha holte die Wasserflasche hervor, und sie tranken wieder; dann zog sie einen Beutel mit Rosinen und Walnüssen heraus und gab ihn dem Kind.
    »Wir befinden uns in Sichtweite unseres Ziels«, erklärte sie, »und ich möchte vor Einbruch der Dunkelheit dort sein, wenn wir es schaffen. Ich kann es nicht erwarten, Ogion zu sprechen. Du bist sicherlich sehr müde, aber wir werden nicht schnell gehen. Dort werden wir heute abend in Sicherheit sein und es warm haben. Behalt den Beutel, steck ihn in deinen Gürtel. Rosinen machen deine Beine stark. Möchtest du einen Stab – wie ein Zauberer –, damit er dir beim Gehen hilft?«
    Therru kaute und nickte. Goha zog ihr Messer, schnitt einen kräftigen Haselnußstecken für das Kind ab, und als sie eine Erle sah, die über die Straße gestürzt war, brach sie einen Ast ab und stutzte ihn zu einem starken, leichten Stock für sich selbst zurecht.
    Sie brachen auf, und das durch die Rosinen verlockte Kind schleppte sich weiter. Um sie beide zu unterhalten, sang Goha Liebeslieder, Hirtenlieder und Balladen, die sie im Mitteltal gelernt hatte; doch plötzlich verstummte ihre Stimme mitten in einer Melodie. Sie blieb stehen und streckte warnend die Hand aus.
    Die vier Männer vor ihnen auf der Straße hatten sie gesehen. Es hatte gar keinen Sinn, sich im Wald zu verstecken, bis die vier weiter- oder vorübergegangen waren.
    »Reisende«, flüsterte sie Therru zu und ging weiter. Sie faßte ihren Erlenstock fester.
    Was Lerche über Banden und Diebe gesagt hatte, waren nicht nur die Klagen jeder Generation, daß nichts mehr so sei, wie es war, und daß die Welt vor die Hunde gehe. In den letzten Jahren waren in den Städten und ländlichen Gebieten von Gont Frieden und Vertrauen immer mehr geschwunden. Junge Männer benahmen sich unter ihren eigenen Leuten wie Fremde, mißbrauchten die Gastfreundschaft, stahlen, verkauften, was sie gestohlen hatten. Früher war selten gebettelt worden, doch jetzt war Betteln üblich, und der nicht zufriedengestellte Bettler drohte mit Gewalt. Frauen gingen ungern allein durch die Straßen und Gassen, und ihnen mißfiel der Verlust an Freiheit. Einige der jungen Frauen liefen von zu Hause fort und schlossen sich den Banden von Dieben und Wilderern an. Oft kamen sie innerhalb eines Jahres verdrossen, grün und blau geschlagen und schwanger zurück. Unter den Dorfzauberern und Hexen gingen Gerüchte um, daß verschiedenes in ihrem Beruf wanke: Zauber, die immer geheilt hatten, heilten nicht; Zaubersprüche, um etwas zu finden, fanden nichts oder den falschen Gegenstand; Liebestränke weckten in den Männern kein leidenschaftliches Verlangen, sondern mörderische Eifersucht. Noch schlimmer war, daß Menschen, die von der Kunst der Magie, ihren Gesetzen und Grenzen und den Gefahren, wenn man sie überschritt, nichts verstanden, sich als mächtig bezeichneten und, ihren Anhängern Reichtum und Gesundheit, sogar Unsterblichkeit versprachen.
    Eppich, die Hexe in Gohas Dorf, hatte dunkel von diesem Niedergang der Magie gesprochen, und Bucher, der Zauberer von Thalmund, hatte das gleiche getan. Der kluge, bescheidene Mann war gekommen, um Eppich zu helfen, die Schmerzen und die Verunstaltung, Folgen von Therrus Verbrennungen, ein wenig zu lindern. Er hatte zu Goha
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher