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Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
Autoren: Ursula K. LeGuin
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jegliche Gestalt. Er zog sich zusammen, wurde noch schwärzer und kroch auf vier kurzen Tatzen über den Sand auf Ged zu. Aber noch immer bewegte er sich und hob sein blindes, unförmiges Gesicht ohne Lippen, Ohren und Augen zu ihm auf. Als sie aufeinandertrafen, wurde es pechschwarz unter dem magischen weißen Licht; der Schatten zog sich hoch und stand aufrecht. In der Totenstille hielten sie inne und standen sich gegenüber, Mensch und Schatten.
    Laut und klar, die Totenstille unterbrechend, sprach Ged den Namen des Schattens aus, und im gleichen Augenblick sprach der Schatten ohne Lippen und Zunge das gleiche Wort: »Ged.« Und die beiden Stimmen waren eine Stimme.
    Ged streckte die Hände aus, ließ seinen Stab fallen und ergriff den Schatten, sein schwarzes Selbst, das sich nach ihm ausstreckte. Hell und Dunkel trafen zusammen, verbanden sich und wurden eins.
    Vetsch war weit zurückgeblieben, und im dunklen Dämmerlicht über den Sand blickend, sah er mit Entsetzen, wie Ged überwältigt und wie der helle Schein, der ihn umgeben hatte, immer schwächer wurde. Von Wut und Verzweiflung gepackt, sprang er aus dem Boot auf den Sand hinaus, um seinem Freund zu helfen oder mit ihm zu sterben. Er rannte in der trostlosen Dämmerung des trockenen Landes auf den letzten verglimmenden Lichtschein zu. Aber noch während er lief, spürte er, wie er im Sand unter seinen Füßen versank, und er begann schwerfällig, wie in Schlick oder Schlamm, zu waten – bis mit donnerndem Brausen und herrlichem Tageslicht, mit bitterer Winterskälte und herbem Salzgeschmack die Welt wiederhergestellt wurde und er plötzlich im nassen, kalten, lebendigen Wasser des Meeres zappelte.
    Nahebei schaukelte das Boot auf den grauen Wellen, sonst konnte Vetsch nichts auf dem Meer erblicken, denn die Schaumkronen der Wellen schlugen ihm ins Gesicht und nahmen ihm die Sicht. Er war nicht der beste Schwimmer und mühte sich ab, zum Boot zu gelangen, und zog sich langsam hoch. Hustend hockte er im Boot und schaute verzweifelt um sich, während er sich das aus den Haaren strömende Wasser aus dem Gesicht strich. Er wußte nicht, in welche Richtung er blicken sollte. Schließlich sah er, weit entfernt, etwas Dunkles auf dem Wasser treiben. Er ergriff flugs die Ruder und näherte sich mit mächtigen Schlägen der Stelle, wo sein Freund im Wasser trieb. Er ergriff seinen Arm und zog ihn an Bord.
    Ged war betäubt, und seine Augen starrten blicklos ins Leere, aber er schien unverletzt zu sein. Er hielt seinen Stab aus schwarzem Eibenholz, dessen Glanz erloschen war, mit der rechten Hand fest umklammert und wollte ihn nicht loslassen. Er sprach kein Wort. Erschöpft, durchnäßt und zitternd kauerte er am Mast und blickte an Vetsch vorbei in die Ferne, der das Segel hißte und das Boot wendete, um den Nordostwind zu fangen. Nichts sah er von dieser Welt, bis sich unmittelbar vor ihm unter dem dunkelnden Abendhimmel, zwischen düsteren Wolkenfetzen eine Bucht klaren blauen Lichtes auftat, in die der neue Mond trat, eine schmale Sichel aus Elfenbein, ein Rand aus poliertem Horn, der das Sonnenlicht über den dunklen Ozean zurückwarf.
    Ged hob das Gesicht und blickte lange auf die ferne, helle Mondsichel im Westen.
    Er ließ den Blick darauf ruhen, dann stand er auf, ergriff seinen Stab mit beiden Händen, wie ein Krieger sein langes Schwert packt. Er schaute auf den Himmel, auf das Meer, auf das pralle braune Segel über sich, auf das Gesicht seines Freundes.
    »Estarriol«, sagte er, »schau her, es ist vollbracht, es ist vorbei.« Er lachte. »Die Wunde ist geheilt«, fuhr er fort, »ich bin ein ganzer Mensch, ich bin frei.« Dann beugte er sich nach vorn, barg das Gesicht in den Armen und weinte wie ein Kind.
    Bis zu diesem Augenblick hatte Vetsch ihn mit Angst und geheimer Furcht beobachtet, denn er war nicht sicher, was sich dort draußen auf dem dunklen Land zugetragen hatte. Er wußte nicht, ob es wirklich Ged war, der im Boot bei ihm saß, und seit Stunden schon hielt er den Anker in der Hand, bereit, die Planken des Bootes zu durchstoßen und sie alle hier mitten im Meer zu versenken, damit das Ungeheuer, das er unter Geds Gestalt und Hülle fürchtete, nicht zurück in die Häfen der Erdsee gelangte. Aber jetzt, als er die Stimme seines Freundes vernahm und ihn anblickte, verschwanden alle Zweifel. Er ahnte die Wahrheit: daß Ged weder gewonnen noch verloren hatte, daß er, indem er dem Schatten seines Todes seinen eigenen Namen gab, sich selbst
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