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Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
Autoren: Ursula K. LeGuin
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ursprünglich aufgebrachten magischen Wind in dem Segel zu halten, so war seine eigene Zaubermacht, so weit vom Land entfernt, doch wirkungslos. Der Wind der hohen See gehorchte seiner Stimme nicht.
    Mit dieser Erkenntnis schlich sich Furcht in sein Herz. Vetsch fragte sich, wieviel ihnen von ihrer Macht verblieben war, hier draußen, so weit entfernt vom Land, dem eigentlichen Wohnort des Menschen.
    Während der Nacht übernahm Ged wieder die Wache und hielt das Boot unentwegt auf östlichem Kurs. Bei Tagesanbruch ließ der Wind der Welt etwas nach, ab und zu brach sogar die Sonne durch. Aber die Wellen türmten sich so hoch vor ihnen, daß die Weitblick sich schräg hochbewegen mußte, oben für einen Augenblick fast unbeweglich auf dem Wellenkamm ritt, dann plötzlich hinunterschoß und das gleiche bei der nächsten, der übernächsten Welle und endlos wiederholte.
    Am Abend des gleichen Tages sprach Vetsch nach langem Schweigen: »Mein Freund, einmal hast du erwähnt, daß wir schließlich Land sehen werden. Es fiele mir nie ein, deine Vision in Frage zu stellen, aber bedenke dies: Das Unbekannte, dem wir folgen, kann dir einen Streich spielen, es kann dir eine Falle stellen, es kann dich hinaus aufs Meer locken, weiter, als es Menschen zu gehen vergönnt ist. Unsere Macht kann sich hier draußen ändern, auf fremden Meeren wird sie geschwächt. Wie du weißt, ermüdet ein Schatten nicht, er verhungert auch nicht, und er kann auch nicht ertrinken.«
    Sie saßen nebeneinander auf der Ruderbank, doch Ged blickte ihn an, als wäre er weit weg, als läge ein Abgrund zwischen ihnen. Sein Blick war umwölkt, und es dauerte lange, bis er antwortete.
    Schließlich sagte er: »Estarriol, wir sind nahe.«
    Als er dies hörte, wußte sein Freund, daß er die Wahrheit sprach. Angst erfaßte ihn. Aber er legte die Hand auf Geds Schulter und sagte nur: »Nun, das ist gut, das ist gut.«
    Als die Nacht kam, wachte Ged wieder, denn er konnte nicht schlafen. Auch am dritten Tag weigerte er sich zu schlafen. Noch immer eilten sie pfeilschnell unter dem stetig starken Wind übers Meer, und Vetsch staunte angesichts der Kraft, die Ged besitzen mußte, um diesen mächtigen magischen Wind pausenlos aufrechtzuerhalten. Er fühlte, wie die eigene Macht schwächer wurde und sich änderte. Und immer weiter flogen sie dahin, bis Vetsch spürte, daß Geds Ahnung ihrer Erfüllung nahe war. Sie kamen in Bereiche jenseits der Quellen des Meeres, jenseits der Tore des Tages. Ged saß vorn im Boot und starrte wie immer geradeaus. Aber er sah jetzt das Meer nicht so, wie Vetsch es sah – als eine Einöde wild bewegten Wassers, das den Rand des Himmels berührte. Vor Geds Augen lag ein dunkles Etwas, das sich vor den grauen Himmel, vor das graue Meer lagerte, das sich wie ein Schleier auf die Welt legte, und der Schleier wurde immer dichter. All dies sah Vetsch nicht; nur auf dem Gesicht des Freundes nahm er ganz undeutlich etwas von dieser Dunkelheit wahr. Weiter und immer weiter fuhren sie, und es war, als gingen sie, obwohl sie in einem Boot saßen und von einem Wind getrieben wurden, getrennte Wege. Vetsch eilte nach Osten über das Weltmeer, während Ged allein ein Reich betrat, in dem es weder Ost noch West gibt, weder Auf- noch Untergang von Sternen und Sonnen.
    Plötzlich erhob sich Ged im Bug des Bootes und sprach laut. Der magische Wind ließ nach. Die Weitblick fuhr langsamer und lag schließlich, ohne sich vorwärts zu bewegen, auf den riesigen Wellen, die sie hoben und wieder fallen ließen wie einen kleinen Holzspan und hin und her schaukelten. Obgleich der Wind der Welt mächtig aus dem Norden blies, hing das braune Segel schlaff am Mast.
    Ged sagte: »Streich das Segel!« Vetsch gehorchte sofort. Ged band die Ruder los, hakte sie ein und begann zu rudern.
    Vetsch, der, so weit er blicken konnte, nichts als Wellen sah, verstand nicht, warum sie jetzt ruderten, aber er wartete, und bald merkte er, daß der Wind der Welt sich abschwächte und die Wellen immer kleiner wurden. Das Boot hob und senkte sich immer weniger, bis es schließlich unter Geds kräftigen Ruderschlägen übers Wasser dahingetrieben wurde, das so still war wie das Wasser einer Bucht. Und obwohl Vetsch nicht sehen konnte, was Ged sah, der zwischen dem Rudern immer wieder den Kopf wandte und nach dem Ausschau hielt, was vor ihm lag; obwohl Vetsch die dunklen Hügel unter den unbeweglichen Sternen nicht wahrnahm, so sahen seine Magieraugen doch in den Vertiefungen
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