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Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Tante trat unter sie, lachte aber nicht. Sie sprach ein Wort zu den Ziegen, und die Tiere, endlich vom Bann befreit, begannen zu meckern, Gras zu rupfen und sich allmählich zu zerstreuen.
    »Folge mir«, sagte sie zu Duny.
    Sie nahm ihn mit in ihre Hütte, in der sie allein wohnte. Kinder durften hier gewöhnlich nicht eintreten, sie hatten sowieso Angst vor dieser Behausung. Es war niedrig drinnen und sah düster aus, denn es gab keine Fenster. Der Raum war voll vom Duft verschiedener Kräuter: Pfefferminze, wildem Knoblauch, Binsenkraut, Thymian, Schafgarbe, Rainfarn, Lorbeer, Trollblumen und Teufelsklaue, die zum Trocknen am Querbalken hingen. Die Tante saß mit überkreuzten Beinen neben der Feuerstelle, und während sie ihn von der Seite durch ihre langen schwarzen Haarsträhnen beobachtete, fragte sie ihn, was er zu den Ziegen gesagt habe und ob er wisse, was es bedeute. Als sie herausfand, daß er nichts wußte und doch in der Lage war, die Ziegen in den Bann zu schlagen und sie zu zwingen, ihm zu folgen, ahnte sie, daß große Macht in ihm schlummerte.
    Als Sohn der Schwester bedeutete er ihr nichts, nun aber sah sie ihn in einem neuen Licht. Sie lobte ihn und sagte, daß sie ihm andere Sprüche beibringen könne, die ihm bestimmt besser gefallen würden, wie zum Beispiel Worte, die eine Schnecke aus ihrem Gehäuse herauslocke, oder den Namen, der den Falken aus den Wolken rufe.
    »O ja, sag mir den Namen!« rief er; der Schrecken mit den Ziegen war schon vergessen, und er setzte sich ganz aufrecht hin, denn es gefiel ihm, daß sie seine Klugheit lobte.
    Das Zauberweib fragte ihn: »Wirst du dieses Wort nie anderen Kindern sagen, wenn ich’s dich lehre?«
    »Nie, ich verspreche es.«
    Sie lächelte über seine offensichtliche Einfalt. »Nun gut, aber ich werde dein Versprechen sichern. Du wirst nicht reden können, bis ich dich aus dem Bann löse. Dann kannst du zwar wieder sprechen, aber das Wort, das ich dich lehre, kannst du nur aussprechen, wenn niemand sonst mithören kann. Wir müssen die Geheimnisse unseres Gewerbes unter uns behalten.«
    »In Ordnung«, sagte der Junge, denn er hatte nicht die Absicht, das Geheimnis an Freunde zu verraten, im Gegenteil, es gefiel ihm recht gut, mehr zu wissen und mehr zu können als sie.
    Er muckste sich nicht, während seine Tante das ungekämmte Haar hinten zusammenband, den Gürtel fester knüpfte und sich niederließ, wiederum mit überkreuzten Beinen. Sie warf einige Hände voll Blätter ins Feuer, so daß sich der Rauch überall ausbreitete und die Hütte füllte. Dann begann sie zu singen. Manchmal änderte sie ihre Stimme, die einmal hoch, einmal tief klang, so als ob ein anderer aus ihr sänge, und der Gesang fand kein Ende, bis der Junge nicht mehr wußte, ob er schlief oder wachte. Während der ganzen Zeit saß der alte schwarze Hund des Zauberweibes, der nie bellte, neben ihm; seine Augen waren rot vom Rauch. Dann sprach das Zauberweib mit Duny in einer Sprache, die er nicht verstand, und er mußte Sprüche und Worte nachsprechen, bis der Zauber über ihn kam und ihn festhielt.
    »Rede!« gebot sie ihm, um den Bann auszuprobieren.
    Der Junge konnte nicht sprechen, aber er lachte.
    Da bekam die Tante etwas Angst vor der in ihm ruhenden Macht. Sie hatte ihren stärksten Zauberspruch gewählt und versucht, sein Reden und sein Schweigen zu beherrschen und ihn gleichzeitig an sich und in den Dienst ihres Zaubergewerbes zu binden. Doch während er unter dem Bann stand, konnte er lachen. Sie sagte kein Wort, sondern schüttete frisches Wasser ins Feuer, bis der Rauch sich verzogen hatte, dann gab sie dem Jungen Wasser zu trinken, und als die Luft wieder sauber war und er wieder reden konnte, lehrte sie ihn den wahren Namen des Falken, dem der Falke gehorchen mußte.
    Das war Dunys erster Schritt auf dem Pfad, dem er von nun an sein Leben lang folgen sollte, dem Pfad der Magie, dem Pfad, der ihn schließlich dazu führte, einem Schatten über Land und Meer nachzujagen, bis zur finsteren Küste des Totenreiches. Aber als er die ersten Schritte tat, schien der Pfad breit und weit zu sein.
    Als Duny erlebte, wie der wilde Falke pfeilschnell aus den Wolken zu ihm herunterstieß, wenn er ihn bei seinem eigentlichen Namen rief, und sich wie der Edelfalke eines Prinzen mit rauschenden Flügeln auf seinem Handgelenk niederließ, trieb ihn die Begierde, noch andere Namen zu lernen, und er ging zu seiner Tante und bat sie, ihn den Namen des Sperbers, des Reihers und des
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