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Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Herbsttages.

Die Schatten
    GED HATTE GEHOFFT , daß er als Lehrling eines großen Magiers sofort in die Künste und Geheimnisse der Magie eingeweiht werden würde. Er hatte sich ausgemalt, wie er die Sprache der Tiere und der Blätter verstehen würde, wie er dem Wind mit Worten gebieten würde und wie er selbst nach Belieben eine andere Gestalt annehmen könne; oder er und sein Begleiter würden als Hirsche durch den Wald jagen oder auf den Schwingen des Adlers nach Re Albi fliegen.
    Aber es kam ganz anders. Zunächst wanderten sie hinunter ins Tal. Dann schlugen sie eine südliche und später eine westliche Richtung ein, die um den Berg herumführte. Sie fanden zumeist Unterkunft in den kleinen Dörfern, die am Weg lagen, manchmal übernachteten sie aber auch im Freien wie arme wandernde Zaubergesellen oder wie Trödler und Hausierer. Keine magische Welt tat sich vor ihm auf, nichts Außergewöhnliches ereignete sich. Der eichene Stab des Magiers, vor dem Ged zuerst etwas Angst gehabt hatte, war nichts weiter als ein kräftiger Wanderstab. Drei Tage waren vergangen, dann vier, und noch immer hatte Ogion kein Zauberwort in Geds Gegenwart gesprochen und ihm noch keine Rune, keinen Namen und keinen neuen Spruch beigebracht.
    Obgleich Ogion sehr schweigsam war, strahlte er solch eine Ruhe und Milde aus, daß Ged bald alle Scheu vor ihm überwand, und nach ein paar Tagen war er mutig genug, ihn zu fragen: »Wann wird meine Lehre beginnen, Meister?«
    »Sie begann bereits«, antwortete Ogion.
    Eine Stille trat ein, und man spürte, wie Ged mit sich kämpfte. Schließlich sagte er: »Aber ich habe doch noch nichts gelernt!«
    »Weil du noch nicht herausgefunden hast, was ich dich lehre«, erwiderte der Magier, und ging, ohne seine großen, gleichmäßigen Schritte zu verlangsamen, weiter auf ihrem Weg, der jetzt über die hohe Paßstraße zwischen Ovark und Wiss führte. Seine Haut war kupferbraun wie die der meisten Männer in Gont; sein Haar war grau und sein Körper hager und sehnig; er redete selten, aß wenig und schlief noch weniger; seine Augen waren scharf, sein Gehör war ausgezeichnet, und oft lag auf seinem Gesicht ein lauschender Zug.
    Ged gab keine Antwort. Es ist nicht immer leicht, einem Magier zu antworten.
    »Du willst zaubern können«, sagte Ogion nach einer Weile, als sie nebeneinander hergingen. »Du hast aber schon zuviel Wasser aus diesem Brunnen geschöpft. Warte jetzt. Ein Mann zu sein, bedeutet Geduld zu haben. Meisterschaft besteht zu neun Teilen aus Geduld. Wie heißt dieses Kraut dort drüben?«
    »Strohblume.«
    »Und dieses hier?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Das ist vierblättriger Klee.« Ogion berührte das Unkraut mit der Spitze seines kupferbeschlagenen Stabes. Ged sah sich die Pflanze genauer an und zupfte eine Fruchthülse ab. Da Ogion nichts weiter sagte, fragte er ihn: »Wozu ist es gut, Meister?«
    »Ich habe keine Ahnung.«
    Ged behielt die Fruchthülse eine Weile in der Hand, dann warf er sie weg.
    »Wenn du Klee in jeder Jahreszeit, entweder an der Wurzel, am Blatt oder an der Blüte, ja selbst am Samen oder am Geruch erkennen kannst, dann wirst du seinen wahren Namen erfahren, und dann erst wirst du sein Wesen erkennen – und das ist viel mehr, als nur zu wissen, wozu es gut ist. Denn, letzten Endes, wozu bist du gut? Oder ich? Ist der Berg Gont zu etwas gut? Oder das Meer?« Ogion marschierte weiter, eine halbe Meile waren sie schon gegangen, als er hinzufügte: »Wer hören will, muß schweigen können.«
    Der Junge runzelte die Stirn. Es paßte ihm nicht, wie ein Einfaltspinsel behandelt zu werden, aber er schluckte seinen Ärger und seine Ungeduld hinunter und versuchte zu gehorchen, während er darauf hoffte, daß Ogion sich schließlich doch herablassen und ihm etwas beibringen werde, denn er fühlte einen Hunger nach Wissen und Macht in sich. Es schien ihm jedoch, als sie so dahinschritten, daß ihm jedes Kräuterweib und jeder Dorfzauberer auf dieser Wanderung mehr hätten beibringen können. Als sie den Berg umgangen und den einsamen Wald oberhalb von Wiss erreicht hatten, fragte er sich immer häufiger, worin eigentlich Ogions große Kunst und sein Ruhm begründet seien. Regnete es nämlich, so sprach Ogion keine der Zauberformeln, die jedem Wettermacher geläufig waren, um den Regen abzuwenden. In Gont und auf der Inselgruppe der Enladen, wo es zahlreiche Zauberer gibt, kann es vorkommen, daß eine dicke, dunkle Regenwolke hin und her torkelt, von einer Gegend in die
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