Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
andere, von diesem oder jenem Wettermacher herumgestoßen, bis sie schließlich hinaussegelt über die See, wo sie sich in Ruhe entleeren kann. Ogion ließ den Regen kommen, wann er wollte. Er suchte dann eine dichtgewachsene Tanne und legte sich darunter, während Ged unter den tropfenden Büschen herumkroch, naß und mißmutig, und sich fragte, wozu nun eigentlich Zauberkraft gut sei, wenn man sie nicht gebrauche, und er wünschte, er wäre als Lehrling zu dem alten Wettermacher gegangen; dort hätte er zumindest im Trockenen schlafen können.
    Er sprach nicht aus, was er dachte. Er redete überhaupt nicht. Sein Meister aber lächelte und schlief ein auf seinem Bett aus den Tannennadeln vom letzten Jahr, und der Regen rauschte.
    Als die Zeit näher rückte, da die Tage immer kürzer wurden, und die ersten Schneefälle die Höhe von Gont bedeckten, erreichten sie Re Albi, Ogions Heimatstadt. Sie liegt hoch oben in den Felsen von Oberfell, und ihr Name bedeutet Falkenhorst. Von hier kann man hinunterblicken auf das tiefe Hafenbecken und die Türme von Gont und die Schiffe beobachten, die durch das große Tor zwischen den Festungsklippen in die Bucht gleiten und sie wieder verlassen, und ganz weit im Westen, am Horizont, erkennt man gerade noch die blauen Berge von Oranéa, der östlichsten der inneren Inseln.
    Das Haus des Magiers glich den Häusern in Zehnellern, obwohl es groß und gut gebaut war und einen Herd mit Kamin statt einer einfachen Feuerstelle hatte. Es bestand aus einem großen Raum mit einem angebauten Ziegenstall; an der westlichen Seite befand sich eine kleine Kammer, in der Ged schlief. Über seiner Strohmatratze war ein Fenster, durch das man weit übers Meer blicken konnte, aber meist mußten die Läden gegen die heftigen Winterstürme geschlossen bleiben, die vom Westen und Norden her bliesen. In der dunklen Wärme dieses Hauses verbrachte Ged den Winter. Während es draußen regnete und stürmte oder der Schnee in lautlosen Flocken niederfiel, lernte er die sechshundert hardischen Runen schreiben und lesen. Er war mit Leib und Seele bei der Sache, denn ohne dieses Wissen, nur durch Auswendiglernen von Sprüchen und Formeln, war noch keiner ein wahrer Meister geworden. Hardisch, eine Sprache, die so wenig Zauberkraft besitzt wie jede andere, geht auf die Ursprache zurück, die alle Dinge bei ihrem wahren Namen nennt. Um diese Ursprache zu verstehen, müssen die Runen gelernt werden, die man niedergeschrieben hatte, als die ersten Inseln dieser Welt in der Weite des Meeres erschienen.
    Noch immer geschahen weder Wunder, noch wurde Zauberei geübt. Den ganzen Winter über saß Ged beim Studium, Seite um Seite im schweren Runenbuch wendend, während draußen Regen und Schnee vom Himmel fielen und Ogion von einem Gang durch den vereisten Wald oder von den Ziegen zurückkehrte, die er versorgte. Wenn er den Schnee von den Stiefeln abgeklopft hatte, setzte er sich ans Feuer und schwieg. Und das lange, fast hörbare Schweigen des Magiers füllte den Raum und Geds Gedanken, bis es ihm manchmal vorkam, als hätte er vergessen, wie Worte klangen; und wenn Ogion schließlich sprach, schien es Ged, als hätte er in diesem Augenblick gerade das Sprechen erfunden, obwohl die Worte, die er sagte, sich auf nichts Außergewöhnliches bezogen, sondern von alltäglichen Dingen, vom Brot und Wasser, vom Wetter und vom Schlafen handelten.
    Der Frühling kam strahlend und hell, und Ogion schickte Ged oft hinaus auf die Wiesen oberhalb von Re Albi zum Kräutersammeln. Er hieß ihn draußen bleiben, solange es ihm gefiele, den ganzen Tag gab er ihm frei, und Ged lief hinaus, durch die vom Regen und Schmelzwasser geschwollenen Bäche, durch Wälder und über nasse, grünende, von der Sonne beschienene Felder. Ged freute sich jedesmal riesig, hinauszukommen, und er blieb immer bis spät abends, aber die Kräuter vergaß er nie ganz, und während des Kletterns und Umherschweifens, während des Auskundschaftens und des Watens in den Bächen hielt er nach ihnen Ausschau und brachte immer einige nach Hause. Eines Tages fand er auf einer sumpfigen Wiese zwischen zwei Bächen viele der weißblühenden Kelchblumen, deren Blüten von Heilkundigen sehr geschätzt werden, und er beschloß, am nächsten Tag zurückzukehren. Aber jemand war ihm zuvorgekommen, ein Mädchen, das er vom Sehen her kannte, die Tochter des alten Fürsten von Re Albi. Er hatte sie noch nie angesprochen, aber nun kam sie auf ihn zu und begrüßte ihn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher