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045 - Das verschwundene Volk

045 - Das verschwundene Volk

Titel: 045 - Das verschwundene Volk
Autoren: Claudia Kern
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Äußeres Territorium Seiner Majestät König Karl V. von Spanien, Juli 1540
    Wenn Ramon Jacob del Estevez die Augen schloss, sah er grüne Olivenhaine, weißgetünchte Bauernhäuser mit roten Dächern und das blaue, funkelnde Meer. In seiner Erinnerung lag seine kastillische Heimat stets unter einer warmen Frühlingssonne, war weder zu heiß noch zu kalt. Das war eine Lüge, so viel war ihm klar, aber in diesen Momenten fand er nur Halt in dem Gedanken, dass es am anderen Ende der Welt einen Ort von solcher Schönheit gab. Hätte er gekonnt, wäre er dort geblieben, aber es gab immer wieder etwas, das ihn aus seinen Tagträumen riss: der Fehltritt eines Pferdes, das Husten eines Mannes oder eine Stimme, die nach seiner Aufmerksamkeit verlangte -
    »Capitän!«
    - so wie jetzt.
    Ramon öffnete die Augen, sah die gelbbraunen Farbtöne der Wüste und den blassen blauen Himmel, über den Wolkenschleier in einer trügerischen Hoffnung auf Regen zogen. Die Trostlosigkeit der Landschaft versetzte ihm einen beinahe körperlich fühlbaren Stich.
    Gott verdamme Coronado, dachte er. Gott verdamme Spanien und Gott verdamme vor allem meine Gier nach Gold und Ruhm.
    »Capitän«, brachte sich die Stimme neben ihm wieder in Erinnerung.
    Ramon stützte sich auf den hölzernen Sattelknauf seines Pferdes und sah zu dem jüngeren Mann - Alfonso Modeno, wie ihm nach einem Augenblick einfiel - hinunter. Wie die meisten Fußsoldaten hatte Modeno Helm, Stiefel und Brustpanzer abgelegt und ging barfuß wie ein Bauer durch die sengende Hitze.
    »Unser geschätzter Adelantado Coronado würde dich auspeitschen lassen, wenn er dich so sehen könnte«, sagte Ramon.
    Modeno deutete eine Verbeugung an.
    »Deshalb ziehe ich mit Euch im Spähtrupp, Capitän. Da bleibt mir ein blutiger Rücken ebenso erspart wie ein Hitzschlag.«
    Ramon drehte sich im Sattel zu den anderen Offizieren um, deren Pferde mit gesenkten Köpfen hinter ihm her trotteten. Zusammen mit den Fußsoldaten bildeten sie eine Truppe von fünfzig Männern, ein Zehntel der gesamten Streitmacht Spaniens in diesem Territorium.
    »Ich hoffe, ihr wisst alle noch, wo ihr euer Zeug vergraben habt«, rief er ihnen zu, »sonst müsst ihr nach unserer Rückkehr auf dern Bauch schlafen!«
    Einige Soldaten lachten, ein paar andere wirkten plötzlich besorgt. Ramon grinste und wandte sich wieder an Modeno. »Weshalb wolltest du mich sprechen?«, fragte er.
    »Seht ihr die Felsen dort hinten, Capitän?« Modeno streckte die Hand aus und zeigte auf etwas, das Ramon als verwaschenen braunen Fleck wahrnahm. »Ich glaube, dort liegt ein Dorf.«
    Ramon zweifelte nicht an seinen Worten. Modenos Augen waren gut und es war nicht das erste Mal, dass er etwas entdeckte, das den anderen entging.
    »Wie groß ist das Dorf?«
    »Ich weiß nicht, Capitän. Sie leben in Höhlen, so wie die anderen. Wenn wir näher herankommen, kann ich die Eingänge zählen.«
    Ramon nickte. Die Indianer, denen die Expedition seit dem Aufbruch aus Mexiko begegnete, unterschieden sich von allen anderen, die sie bisher gesehen hatten. Sie bauten nur wenige Häuser, sondern lebten vorwiegend in Lehm- und Steinhöhlen, die durch ein Netzwerk von Leitern und Gängen miteinander verbunden waren. Coronado fluchte oft darüber, weil man die Dörfer so schwer anzuzünden konnte, aber Ramon fühlte sich zu ihnen hingezogen. Er hatte sogar begonnen, die merkwürdigen Konstruktionen heimlich aufzuzeichnen, während die anderen Soldaten sie nach verborgenen Reichtümern durchsuchten und die Bewohner abschlachteten.
    Ramon schüttelte den Gedanken ab. Fray Antonio, der Priester des Feldzugs, hatte ihm schließlich bei seiner letzten Beichte versichert, dass nur Indianer, die sich zum Christentum bekehren ließen, eine Seele hätten. Wie er die jedoch im Kampf von den Seelenlosen unterscheiden sollte, war ihm noch nicht klar.
    Er wischte sich den Schweiß aus den Augen und ritt weiter. Sie kamen der Steilwand, die Modeno ihm gezeigt hatte, langsam näher. Sie schien nicht sonderlich hoch zu sein, vielleicht dreißig Fuß, und zog sich über die gesamte Breite der Ebene hin. Jetzt erkannte auch Ra- mon die dunklen Löcher darin, die treppenartigen Abstufungen und die Leitern, die vom Boden aufragten. Felle trockneten eingespannt in Holzkonstruktionen unter der gleißenden Sonne. Große, schwarz und weiß bemalte Tonkrüge standen am Rand der Wand. Es war niemand zu sehen, aber in der mittäglichen Hitze war das nicht ungewöhnlich. Nur wer
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