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Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
Autoren: Ursula K. LeGuin
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ihm Ogion damals auf dem Berghang von Gont gesagt hatte: »Wer hören will, muß schweigen können …« Und dann verstummte er und grübelte vor sich hin, den Blick stundenlang unverwandt auf das Meer gerichtet. Manchmal schien es Vetsch, als sehe sein Freund weit vor sich, über den Wellen und hinter den noch vor ihnen liegenden grauen Tagen das Ding, das sie verfolgten, und als ahne er das Ende ihrer Reise.
    Sie segelten an Gosk und Kornay vorbei, doch das Wetter war so schlecht, daß sie keine der beiden Inseln im Regen und Nebel entdeckten und erst am nächsten Tag merkten, daß sie daran vorbeigesegelt waren, denn vor ihnen erhoben sich die gezackten Konturen einer Insel, über der Riesenschwärme von Möwen kreisten, deren schrilles Krächzen weit übers Meer zu hören war. Vetsch sagte: »Das sieht aus wie Astowell, das Letztland; östlich und südlich davon ist die Seekarte leer.«
    »Aber die Bewohner wissen vielleicht mehr und können uns sagen, ob es weiter draußen doch noch Land gibt«, antwortete Ged.
    »Warum sagst du das?« fragte Vetsch, denn Geds Stimme klang unsicher, und seine Antwort kam stokkend und zögernd und klang seltsam. »Hier nicht«, sagte er, und sein Blick blieb auf Astowell haften und wanderte weiter, daran vorbei oder hindurch. »Hier nicht. Nicht auf dem Meer. Nicht auf dem Meer, sondern auf trockenem Land. Welchem Land? Vor den Quellen der offenen See, jenseits des Ursprungs, hinter den Toren des Tages?«
    Dann verstummte er, und als er wieder redete, klang seine Stimme so, als wäre er von einem Bann oder einer Vision befreit, an die er sich nicht mehr erinnern konnte.
    Der Hafen von Astowell war nichts weiter als die Mündung eines Baches zwischen hohen Felsen an der Nordküste der Insel. Alle Hütten der Insel waren nach Norden und Westen gerichtet. Es sah aus, als ob die ganze Insel ihr Gesicht gegen die Erdsee wandte, dorthin, wo weit, weit weg andere Menschen wohnten.
    Die Ankunft von Fremden rief Aufregung und Bestürzung unter der Bevölkerung hervor, denn noch niemals hatte sich ein Boot zu dieser Zeit in die Gewässer um Astowell gewagt. Die Frauen blieben in den Lehmhütten und lugten aus ihren Türen hervor, während sie die Kinder hinter ihren Röcken verbargen, und zogen sich voll Furcht in die Hütten zurück, als die Fremden den Strand heraufkamen. Die Männer, hager und schlecht gekleidet angesichts der Witterung, schlossen schweigend einen Kreis um Vetsch und Ged. Jeder hielt eine Steinaxt oder ein aus Muscheln gefertigtes scharfes Messer in der Hand. Aber als sie ihre Furcht überwunden hatten, nahm das Fragen kein Ende. Selten geschah es, daß ein Schiff, selbst von Soders oder Rolameny, bei ihnen anlegte, denn sie hatten nichts, was sie gegen Bronze oder andere begehrte Waren eintauschen konnten; selbst Holz besaßen sie nicht. Ihre Boote waren aus Tierhäuten gefertigt, die sie über ein Schilfgeflecht spannten, und es gehörte viel Mut dazu, darin nach Gosk oder Kornay zu fahren, den nächstgelegenen Inseln. Ganz allein wohnten sie hier, am Rand der Seekarte. Sie besaßen weder Zauberweib noch Zauberer und erkannten die Stäbe der jungen Männer nicht ob ihrer Bedeutung, sondern bewunderten sie ob des Materials, aus dem sie gefertigt waren: Holz. Ihr Häuptling – oder Dorfältester – war sehr alt, und er allein hatte schon einmal einen Menschen aus dem Inselreich gesehen. Ged betrachteten sie wie ein Wunder, und die Männer hielten ihre Knaben hoch, damit sie den Mann aus dem Inselreich sehen und sich später, wenn sie einmal alt waren, daran erinnern konnten. Von Gont hatten sie noch nie gehört, nur von Havnor und Éa, und sie betrachteten Ged als einen Fürsten von Havnor. Er tat sein möglichstes, um ihre Fragen nach der Weißen Stadt zu beantworten, die er selbst noch nie gesehen hatte. Aber er hatte keine Ruhe, und als es immer später wurde und sie in der Wärme des scharf riechenden, qualmenden, von Ziegendung und Schilfbündeln genährten Feuers in der Versammlungshütte saßen, fragte er die Männer des Dorfes: »Was liegt östlich der Insel?«
    Keiner sprach, einige grinsten, andere blickten finster.
    Der Dorfälteste antwortete: »Das Meer.«
    »Weiter draußen gibt es kein Land mehr?«
    »Dies hier ist Letztland. Es gibt kein anderes Land weiter draußen, nur Wasser von hier bis ans Ende der Welt.«
    »Es sind weise Männer, Vater«, sagte ein junger Mann. »Es sind Seefahrer, Reisende. Vielleicht wissen die von einem Land, das wir nicht
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