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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch
Autoren: Rainer Funk
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heißt für seine Fans, an seinem Entgrenzungsstreben Anteil haben und zugleich das eigene Streben, Grenzen beseitigen zu wollen, realisieren und verstärken zu können.
    Warum aber ist das Streben nach Entgrenzung so attraktiv? Warum gerade für den gegenwärtigen Menschen? Oder gab es dieses Streben schon immer? Grenzen überschreiten zu wollen und mit Grenzen leben zu müssen - dies ist ein zentrales Thema von Religion, Philosophie und Wissenschaft. Offensichtlich geht es aber beim Streben nach Entgrenzung um etwas anderes als um den Wunsch nach Grenzüberschreitung und um die Notwendigkeit des Einhaltens von Grenzen. Es geht um ein tief reichendes
Streben, alles entgrenzen zu wollen, ja zu müssen - um gänzlich frei zu sein.
    Damit ist das andere Thema angesprochen, das den gegenwärtigen Menschen zutiefst bestimmt, obwohl es in geradezu unglaublicher Weise verharmlost, verdrängt und verleugnet wird: seine Abhängigkeit . Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Ruf nach absoluter Freiheit und das damit einhergehende rücksichtslose Entgrenzungsstreben umso stärker ertönen, je abhängiger wir uns in Wirklichkeit erleben. Allerdings darf dieses Abhängigsein weder gespürt noch wahrgenommen werden. Mit dem emphatischen Freiheitsstreben muss das Abhängigkeitserleben vom Bewusstsein ferngehalten werden. Dies wurde bereits beim Umgang von Michael Jackson und seinen Fans mit Jacksons Abhängigkeitserkrankung deutlich. Da Beziehungen zu Idolen wenig Raum lassen, um das eigene Abhängigkeitserleben spüren zu können, soll der nächste Abschnitt in einem völlig anderen Zusammenhang nicht vom Entgrenzungsstreben sprechen, sondern davon, wie wir Abhängigkeit erleben und mit diesem Erleben umgehen.

STROMAUSFALL IM MÜNSTERLAND - VERLEUGNUNG GRENZENLOSER ABHÄNGIGKEIT
    Am 26. November 2005 gingen im Westen des Münsterlandes die Lichter aus. Etwa 250 000 Menschen saßen an jenem Freitagabend auf einmal im Dunkeln. Anders als bei lokalen Stromausfällen, war es dieses Mal flächendeckend dunkel. Auch war der Stromausfall nicht nach ein paar Stunden bereits wieder behoben. Für viele dauerte er ein ganzes Wochenende lang. Vier Tage später
waren noch immer 2000 Menschen ohne Elektrizität - vor allem in den landwirtschaftlichen Betrieben außerhalb der Ortschaften.
    Es wurde aber nicht nur dunkel. In den Ortschaften fielen die Ampeln aus, und in den meisten Märkten ging gar nichts mehr. Die Einkaufswagen mussten gefüllt zurück gelassen werden, da die Computerkassen ihre Dienste verweigerten. Manch eine verließ den Frisör ungeföhnt und manch einer den Geldautomaten ohne Geld. Wer Glück hatte, erfuhr über sein Autoradio, dass mit einem baldigen Ende der lichterlosen und stromlosen Welt nicht zu rechnen sei. Zuhause fehlte die Radiokulisse; Fernseher und Monitor blieben dunkel. Gut, dass die ungewohnte und bedrohliche Stille mit den Stöpseln eines mp3-Players überwunden werden konnte. Kerzen erlebten ein Comeback. Strombetriebene Telefone entpuppten sich als völlig nutzlose Geräte.
    In den Kühlgeräten der Läden und der Haushalte begann das große Auftauen. Zuvor war der nasse Schnee an den Überlandleitungen gefroren, so dass die Strommasten unter der Last der vereisten Leitungen wie Streichhölzer zusammenbrachen. Mit ihnen brach aber auch das gewohnte Leben zusammen, denn nur in den seltensten Fällen standen eine Notbeleuchtung und Notstromaggregate zur Verfügung. Die elektrisch betriebenen Betten im Altenpflegeheim ließen sich nicht mehr auf die Nacht- und Schlafposition bringen, die Aufzüge standen still, einige Demenzkranken entwickelten massive Ängste, weil sie angesichts der Verdunkelung glaubten, es sei wieder Krieg.
    Glücklich, wer mit Gas kochte. In manchen Kneipen war es beim Schein der Kerzen noch eine Weile lang richtig gemütlich, bis klar wurde, dass die Heizung ausgefallen war. Auch Öl- und Gas-Heizungen werden nämlich elektrisch gesteuert. Manch einer kramte zuhause mit der Taschenlampe in den Campingutensilien, um sich mit dem Camping- oder gar mit einem Esbit-Kocher notdürftig eine Tasse Tee zuzubereiten. Nicht nur draußen, sondern vor allem in der sonst warmen Stube wurde es immer kälter.
    Fürs Erste, und da es ohnehin bald Zeit zum Schlafen war, konnte man getrost in seinem Bett Zuflucht nehmen und sich
aufwärmen. Nicht wenigen aber dämmerte am nächsten Morgen, dass tatsächlich das Bett der einzige Ort in den eigenen vier Wänden war, in dem man nicht fror.
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