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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch
Autoren: Rainer Funk
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Künstler Michael zu ›befreien und weiterleben‹ zu lassen.« Bestätigt wird diese Art »Auferstehung« bereits fünf Monate später mit »posthumen« Auszeichnungen: Als »beliebtester« Künstler in den Kategorien »Pop/Rock« und »Soul/Rhythm&Blues« wurde er 2009 gleich mit vier »American Music Awards (Amas)« geehrt.

    Die Botschaft vom Entgrenzungsstreben konnte für viele Jackson Fans nur durch eine Verleugnung seiner menschlichen Begrenztheit am Leben gehalten werden. Bereits zwanzig Jahre vor seinem Tod kam es allerdings zu einer Entwicklung, die manchen, die von seinen entgrenzenden künstlerischen Fähigkeiten begeistert waren, fragwürdig schien. Ab 1988 ließ er für sich selbst und für eingeladene Kinder auf einem abgelegenen Areal in Kalifornien ein Kinderland aufbauen. Er nannte dieses nach der Kindergeschichte von James Matthew Barrie »Neverland« (»Nimmerland«). Bei Barrie ist die Insel Neverland ein Ort, an dem Kinder leben, die niemals erwachsen werden wollen. Held der Geschichte ist Peter Pan, der andere Kinder nach Neverland entführt bzw. entführen lässt, sie aber auch wieder gehen lässt, wenn sie sich doch für das Erwachsenwerden entscheiden.
    Peter Pan allerdings ist und bleibt das Kind, das niemals erwachsen wird und sich damit den Wunsch nach einem unbegrenzten
und also entgrenzten Kindsein zeitlebens erfüllt. Jeder Mensch hat mit diesem Wunsch, für immer Kind bleiben zu wollen, zu kämpfen. Kindsein bedeutet Zuwendung, Versorgtwerden, Freiheit und Verbundensein mit Menschen, die für einen aufkommen und die Verantwortung übernehmen. Ebenso steht kindliche Entwicklung, wenn nicht eine schwere Pathologie vorliegt, auch für entgrenzende Neugier, für den Wunsch nach größerem Können und mehr Autonomie, nach eigener Leistung und Potenz, nach Distanzierung, Differenzierung und Individualisierung. Dieser Wunsch, seine Lebensmöglichkeiten auszuschöpfen und das schutz- und versorgungsbedürftige Kindsein hinter sich zu lassen, ist allem Lebendigen zueigen. Beim Menschen hat dieser Wunsch sogar noch eine weitere Quelle: Auf Grund seines Vorstellungsvermögens und der Fähigkeit, sich seiner selbst bewusst zu sein, erlebt sich das Kind zunehmend von den elterlichen Funktionen abhängig und als verloren, hilflos und ohnmächtig, wenn diese nicht zur Verfügung stehen. Sich nicht abhängig erleben zu müssen, ist deshalb ein starkes zusätzliches Motiv für den Wunsch, das Kindsein hinter sich zu lassen.
    Offensichtlich symbolisiert »Neverland« eine Lösung, bei der das Kindsein auf eine Weise entgrenzt wird, dass es unbegrenzt Gültigkeit hat und »never«, niemals, endet. Deutlich wird dies darin, dass Neverland in der Geschichte von Barrie eine fiktive Insel ist, fern der Erwachsenenwelt. Auf ihr leben Kinder, die der Erwachsenenwelt entkommen möchten, um für immer in einer magisch-entgrenzten kindlichen Wunschwelt leben zu können, die voller Abenteuer und Ausgelassenheit ist. Natürlich wollen auch sie groß werden, doch eben nicht um den Preis, ein derart grenzenlos kreatives und ausgelassenes Kindsein aufgeben zu müssen. Vielmehr wollen sie insgeheim immer ein Kind bleiben. Die Kehrseite des Kindseins, das Problem der Abhängigkeit, löst Peter Pan in der Geschichte dadurch, dass er von einem nächtlichen Ausflug nach London mit der fliegenden Fee Tinkerbell das Mädchen Wendy Darling nach Neverland mitbringt, das für
die »verlorenen Jungs« die Mutterrolle übernimmt, sich dabei aber den Gesetzen der Kinderwelt beugt.
    Der Gedanke liegt nahe, dass Michael Jackson mit der »Neverland-Ranch« vor allem etwas über sich selbst und seinen Wunsch nach entgrenztem Kindsein preisgab. Er wollte wie Peter Pan sein eigenes entgrenztes Kindsein in einem symbiotischen Zusammensein mit anderen Kindern ausleben. Man kann diesen Wunsch in einer maskierten Form sehr wohl auch in seinen künstlerischen Auftritten und in den Reaktionen seiner Fans ausmachen. Auf Neverland kommt er direkter zum Vorschein, ist er der künstlerischen Performance entkleidet und zugleich dem Auge kritischer Beobachter entzogen.
    Hier in dem Vergnügungspark für Kinder mit einer Eisenbahn und 200 Tieren wohnte Michael Jackson. Hier konnte er als Erwachsener mit Babypuppen in der Hand herumlaufen oder sich fremde Kinder zum Schmusen ins Bett holen. Es gab heiße Milch und Kekse, aber keinen Sex: »Ich pack sie ins Bett, mache etwas Musik an, und wenn es Zeit für Gutenachtgeschichten ist, dann lese ich
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