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Der Engelspapst

Der Engelspapst

Titel: Der Engelspapst
Autoren: Jorg Kastner
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Favoriten gehört.
    Nur im Verzeichnis aller an der Papstwahl teilnehmenden Kardinäle war er vermerkt: Jean-Pierre Gardien, Franzose, acht-undfünfzig Jahre alt, Präsident des Rates zur Förderung der Einheit der Christen und davor Erzbischof von Marseille. Mit diesen spärlichen Informationen versehen, sprachen die Live-Berichterstatter in die Mikrofone; andere Reporter zückten die Handys, um ihre Berichte durchzugeben. Routiniert machten sie aus der Nachricht im Handumdrehen eine Sensation: Wieder einmal war ein Nichtitaliener zum Papst gewählt worden, er war für das hohe Amt verhältnismäßig jung – und zudem ein krasser Außenseiter!
    Zu erklären war das nur mit der langen Dauer des Konklaves.
    Vor neun Tagen waren die Wahlberechtigten – alle Kardinäle, die jünger als achtzig waren – zusammengekommen, um sich mit einer Mehrheit von mindestens zwei Dritteln plus einer aller Stimmen auf einen Nachfolger des verstorbenen Oberhirten zu einigen. Zur Wahl trafen sie sich in der Sixtinischen Kapelle, die restliche Zeit verbrachten sie im nicht minder streng von der Außenwelt abgeriegelten Hospiz der heiligen Marta, an der anderen Seite des Petersdoms. Vier Wahlgänge pro Tag waren zugelassen, und viermal trat als Zeichen einer nicht erfolgten Einigung schwarzer Rauch aus dem Schornstein, am ersten, am zweiten und auch am dritten Tag. Am vierten Tag spähte niemand neugierig in den Himmel über der Sixtinischen Kapelle; nach den Vorschriften für das Konklave diente dieser Tag dem Beten und vor allen Dingen Besprechungen unter den Kardinälen. An den nächsten drei Tagen kam es wieder zu jeweils vier Wahlgängen, und zwölfmal stieg tiefschwarzer Rauch in den Himmel über der Ewigen Stadt. Erneut gab ein Ruhetag Zeit für Spekulationen. Die Presse mutmaßte, der konservative und liberale Flügel könnten sich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Und jetzt, als ein krasser Außenseiter zum neuen Pontifex gewählt war, schien diese Annahme bestätigt. Beide Lager hatten lieber einen unscheinbaren und, wie sie hofften, leicht zu beeinflussenden Dritten gewählt als den bevorzugten Kandidaten des anderen Flügels.
    Für die nächste Sensation sorgte der Kardinalprotodiakon, als er über den neuen Papst bekannt gab: «… der den Namen Custos gewählt hat.»
    Custos? – Mit allem hatte man gerechnet. Mit einem neuen Clemens, Benedikt, Pius oder Gregor. Mit einem weiteren Leo, Paul oder Johannes. Auch mit einem Doppelnamen, wie er zum ersten Mal von Albino Luciani und dann von seinem Nachfolger Karol Wojtyla, Johannes Paul I. und II., gewählt worden war.
    Aber Custos?
    Wieder huschten die Finger der Journalisten über Listen oder tippten den Namen eilig ins Suchprogramm eines Notebooks.
    Ein Custos war dort nicht zu finden, und schon ergingen die Reporter sich in Spekulationen über die Bedeutung des Namens: Wächter, Hüter, Aufseher …
    Papst Custos wartete nicht, bis sie mit ihrer Aufzählung fertig waren. Er trat an Tamberlanis Platz, direkt an der Balkonbrüstung, und gierig zoomten tausend Kameras auf den Mann in Weiß. Die jungfräuliche Soutane, angefertigt vom päpstlichen Hofschneider Gammarelli, ließ den feingliedrigen Körperbau nur erahnen. Vor jeder Papstwahl schneiderte Gammarelli drei Soutanen, eine kleine, eine mittlere und eine große. Für den neuen Pontifex war die mittlere groß genug.
    Die schmalen Augen blickten in einer Mischung aus Neugier und Unglauben auf die jubelnde Menge hinunter, aber nicht auf sie herab. Ein Blick, der Scheu verriet vor dem Amt, das ihm die anderen Kardinäle – und Gott, wie man sagte – überantwortet hatten. Doch zugleich ein fester, verantwortungsbewusster Blick. Später hätte wohl beinahe jeder aus der riesigen Menge gesagt, der neue Oberhirte habe ihm persönlich tief in die Augen gesehen, in die Seele.
    Als Custos der Stadt Rom und dem ganzen Erdkreis den Segen Urbi et Orbi erteilte, wich der tosende Jubel einer stillen Ergriffenheit. Die Augen der Gläubigen hingen an den Lippen des Papstes, als habe der Prälat Jean-Pierre Gardien mit der Nachfolge Petri nicht nur die Stellvertretung Gottes auf Erden übernommen, sondern sei selbst von göttlichem Atem gestreift worden. Schnell wurde allen klar, dass dieser Papst ein ganz besonderer Mensch war.
    Erst recht, als er dem Segen eine persönliche Ansprache folgen ließ, keine vorgefertigte Rede, sondern Worte, die spontan und von Herzen kamen. Offene, ungewöhnliche Worte, die manch
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