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Der Engelspapst

Der Engelspapst

Titel: Der Engelspapst
Autoren: Jorg Kastner
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erfahrenen Vatikankorrespondenten und besonders die Kardinäle auf dem Balkon zu einem Stirnrunzeln veranlassten.
    Wer geglaubt hatte, mit dem neuen Papst würde die alte Ruhe und Ordnung in den Vatikan zurückkehren, sah sich grob getäuscht. Custos würde für frischen Wind sorgen, im Heiligen Stuhl und in der ganzen Weltkirche.
    Aber niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass den außerordentlichen Worten schnell außerordentliche Ereignisse folgen sollten. Ereignisse, die den Vatikan und die gesamte Christenheit bis in die Grundfesten erschüttern würden.

1
    Donnerstag, 30. April
    Wolken verdüsterten die Abenddämmerung; es war, als bräche die Nacht früher herein. Angestrengt spähte Heinrich Rosin auf die enge Fahrbahn, die von den Lichtspeeren der Scheinwerfer aus dem Dunkel gerissen wurde. Vorsichtig lenkte er den Lancia über den schmalen Kiesweg, die einzige Durchfahrt an der Baustelle.
    Rechts neben ihm gähnte der Abgrund. Als das knirschende Geräusch unter den Reifen verstummte und der Wagen wieder über die asphaltierte Bergstraße rollte, atmete er auf.
    Dunkler Wald säumte die Straße zur Linken, und dunkel lag die alte Kirche zwischen den Bäumen. Nicht ein Fenster war erleuchtet, fast wäre er vorbeigefahren. Als das Scheinwerferlicht über die brüchigen Mauern glitt, kamen ihm Zweifel, ob er den Mann, den er suchte, tatsächlich hier finden würde. Das halb verfallene Gebäude sah nicht aus, als beherberge es ein menschliches Wesen.
    Rosin stellte Licht und Motor ab, stieß die Fahrertür auf und griff nach der Kassette, die auf dem Rücksitz lag. Doch dann zögerte er, starrte den schmucklosen Kasten an und fragte sich, ob er das Richtige tat. Der neue Papst hatte sein ganzes Weltbild ins Wanken gebracht, mehr noch, es umgestürzt. Er hatte den Heiligen Vater bekehren wollen, aber Papst Custos war ein ungewöhnlicher Mann, ein sehr ungewöhnlicher. In langen Gesprächen hatte er ihn, Heinrich Rosin, davon überzeugt, dass er den falschen Weg beschritt. Mit seinem Entschluss, sich auf die Seite des Heiligen Vaters zu stellen, war er auch zu der Erkenntnis gelangt, dass die Kassette an einen sicheren Aufbewahrungsort gehörte. Doch jetzt fiel es ihm schwer, das lang gehütete Geheimnis einem anderen zu überantworten.
    Er gab sich einen Ruck, stieg aus dem Wagen und ging langsam auf die Kirche zu. Mehrere Anbauten wirkten ebenso düster und abweisend wie das alte Hauptgebäude selbst.
    Gottverlassen. Als er auf dem Vorplatz stehen blieb und sich suchend umsah, erschreckte ihn eine heisere Stimme.
    «Sind Sie das, Bruder Heinrich?»
    Die Stimme kam von links. Rosin drehte sich um. Zwischen zwei lang gestreckten Gebäuden stand eine Gestalt, so finster, als wollte sie mit der Nacht verschmelzen.
    Er hatte die Stimme erkannt. Als er näher trat, erkannte er auch das Gesicht, obwohl es sich sehr verändert hatte. Die Haut spannte über den Knochen wie bei einem Totenschädel, der sich für einen nächtlichen Spukauftritt notdürftig den Anschein eines menschlichen Antlitzes gab. Die schwarze Soutane stammte aus Tagen, in denen ihr Träger ein kräftigerer Mann gewesen war; sie war viel zu weit. Die Augen des Geistlichen lagen hinter dicken Brillengläsern wie hinter einem Schutzwall.
    «Sie sehen schlecht aus, Monsignore. Geht es Ihnen nicht gut?
    Sind Sie krank?»
    «Nur an der Seele. Den Grund sollten Sie kennen, Bruder Heinrich, zumindest ahnen. Ich kasteie meinen Körper in der Hoffnung, dass die Seele gesundet.» Das Zucken seiner Mundwinkel war die Andeutung eines Lächelns. «Hat Gott mir nicht verziehen? Sind Sie gekommen, um meiner Qual ein Ende zu bereiten?»
    «Was meinen Sie, Monsignore?»
    «Pater genügt, ich bin kein Benefiziat mehr. Falls Förmlichkeiten noch eine Rolle spielen.» Der Geistliche seufzte.
    «Was ich meine? Ich frage Sie, ob der Orden Sie geschickt hat mit dem Auftrag, einen Abtrünnigen zu bestrafen, ihn zum Schweigen zu bringen.»

    Nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte, sagte Rosin: «Zum Schweigen bringen? Ganz im Gegenteil, Pater, ich brauche Ihre Hilfe.»
    Er musste sich daran gewöhnen, den Geistlichen einfach nur
    «Pater» zu nennen; zu lange hatte er ihn als «Monsignore», als seinen Beichtvater im Vatikan, gekannt.
    Der Pater bat ihn in einen der Anbauten, in einen kleinen, kargen Raum, und zündete eine Kerze an. Im flackernden Schein der Flamme, die sich auf den Brillengläsern spiegelte, wirkte das ausgezehrte Gesicht noch
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