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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman
Autoren: Susanne Betz
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zugestehen müssen, warum sich dann unterschiedliche elektrische Ladungen gegenseitig anziehen.«
    Obwohl alle Fenster geschlossen waren, spürte Charlotte von einem Moment auf den anderen eine kräftige salzige Meeresbrise durch den Raum schwappen, die ihr ins Gesicht und in die Röcke blies, sodass sie sich wie damals auf der »Good Intent« an der Reling festhalten musste, um nicht zu taumeln. Sie fand eine Stuhllehne, umklammerte sie so fest mit beiden Händen, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. Dufay. Elektrische Flüssigkeit. Gegenseitig anziehen … Worte, die ihr einmal so geläufig gewesen waren wie ihrer Mutter der Preis von Wertpapieren und Samuel bestimmte Bibelstellen. Hatte sie diese Worte gerade wirklich gehört? Hier in diesem Haus in einem weltabgeschiedenen Kloster mitten in der amerikanischen Wildnis? Oder hatte sie wieder Wahnvorstellungen wie kürzlich beim Heuwenden auf der Wiese? Charlotte schnappte nach Luft, nach mehr Sauerstoff in der frischen Brise. Dabei drangen neue Worte an ihr Ohr und wurden von ihr mit klopfendem Herzen entschlüsselt.
    »Ebenezer, du ungläubiger Thomas. Ich wollte zwar schon längst bei Miller in der Druckerei sein, aber ich nehme mir die Zeit, es dir noch einmal haarklein zu erklären …«
    Während die Frauen in Trance weiter Blumen, Turteltauben und Noten strichelten, öffnete sich die Tür vom Nebenraum, und ein braun gekleideter Mann trat über die Schwelle. Gestikulierend und ganz in sein hitziges Gespräch vertieft, hatte er keinen Blick für die Anwesenden übrig. In Charlotte liefen zittrige Wellen zusammen, ihre Hände lösten sich von der Stuhllehne und griffen, um sich abzulenken, nach einem Buch mit dem Titel »Das christliche A B C ist Leiden, Geduld und Hoffnung«. Seite für Seite bedruckt mit den Buchstaben des Alphabets, jeder ein akribisches Kunstwerk und in Frakturschrift, wie sie sie aus Deutschland kannte. Obwohl sie darauf brannte, nichts von der Unterhaltung zu versäumen, schaute Charlotte unwillkürlich genauer hin. Im Bauch des Buchstaben B hockte zusammengekauert ein kleiner bärtiger Mann.
    »Er sieht meinem Vater ähnlich, findest du nicht auch«, flüsterte Sarah. Charlotte beachtete sie nicht. Denn nun hatte sich der zweite Mann, dessen Stimme sie bislang nur gehört hatte, ins Zimmer geschoben. Er war es, der zu ihnen herübersah und seinen Dreispitz zog, sich verbeugte. Der andere konnte seinen Redefluss noch immer nicht bremsen:
    »… alle Stofflichkeit besteht aus der eigentlichen Materie und dem elektrischen Feuer. Auch das, Ebenezer, habe ich dir schon öfter erklärt. Zwischen Materie und Feuer herrscht immer eine Anziehung. Die Teile des Feuers dagegen stoßen sich untereinander ab. Im Normalzustand …«
    Charlotte stand reglos in dem Luftzug, der immer stärker wurde. Aber jetzt war sie sicher: Diese Stimme, diese Worte, dieser Mann, der sie soeben gesagt hatte, das war Realität. In dem Maß, in dem Charlotte das begriff, überschwemmte sie ein stürmisches Frohlocken. In ihrem Magen löste sich ein Knoten. Etwas, das lange Zeit in ihr in einer Art Winterschlaf gelegen hatte, reckte und streckte sich. In ihren Schläfen hämmerte es. Obwohl Charlotte von Natur aus groß war, stellte sie sich auf die Zehenspitzen. Sie konnte sich keine Sekunde länger zurückhalten.
    »Wie wollen Sie damit aber die Funktionsweise der Leydener Flasche erklären?«
    Charlottes Stimme klang gepresst. Ihre lange Nase bohrte sich durch das Dämmerlicht in Richtung des Fremden in Braun. Der verstummte abrupt, wandte sich von seinem Freund ab und ihr zu. Was sonst kaum jemandem gelang, hatte Charlotte erreicht. Er blickte verblüfft, fast übertölpelt. Charlotte sah es sofort in seinen Augen, erkannte ihre Chance. Hatte nicht auch so das Geschäft mit Manteuffel begonnen? Charlotte legte nach.
    »Oder anders gefragt, Sie leugnen also die Existenz von zweierlei Elektrizitäten, nämlich der Glas- und Harzelektrizität, wie sie eigentlich alle maßgeblichen Wissenschaftler …«
    »Alles Unsinn, alles Unsinn, allerdings, Madame, ich bin überrascht. Mehr als überrascht, entzückt würde ich sagen.«
    Auch wieder so einer, der, wenn es etwas Wichtiges zu sagen gäbe, ins Stammeln kommt, schoss es Charlotte durch den Kopf. Denn sie wollte so dringend mehr hören, mehr erfahren von all dem, das sie so lange entbehrt hatte. Ein Mensch der Wissenschaft war ihr mitten vom Himmel direkt vor die Füße gefallen, als sie nicht im Traum damit gerechnet
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