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Der eiserne Wald

Der eiserne Wald

Titel: Der eiserne Wald
Autoren: Chris Howard
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ganz selbstverständliche Bitte, die ich ständig zu hören bekam. »Bring mich hin, dann zeige ich dir meine Bilder. Jedes einzelne.«
    Ich lachte, aber ihre Miene blieb ernst. Gerade als ich etwas sagen wollte, sprang sie auf und lief Richtung Haus.
    Nein danke, Süße. Das hatte ich ihr sagen wollen. Auf gar keinen Fall. Meinen Hals riskieren, nur um auf die Brandung zu starren? Einige Straßen da draußen sind verdammt tückisch, und die Küste selbst ist noch viel tückischer. Und Frost würde das überhaupt nicht gefallen. Die war doch verrückt. Und ich wäre verrückt, wenn ich es tun würde.
    Doch dann sah ich das Foto, das sie auf den staubigen Gummispänen zurückgelassen hatte, genau in dem Abdruck ihres Körpers.
    Ein Foto. Ein einziges Bild.
    Ich nahm es und starrte darauf.
    Bäume.
    Ein ganzer Wald.
    Bäume, die sich im Wind bogen, unter einem strahlend blauen Himmel. Mein Herz raste und mir wurde schwindelig. Sie waren mindestens sechs Meter hoch. Weiße Borke, gelbe Blätter. Genau wie Frosts Baum. Wie der tätowierte Baum. Aber diese Bäume waren lebendig. Diese Bäume waren echt.
    Natürlich hatte ich schon öfter Fotos gesehen. Fotos von Bäumen. Fleckige Bilder, rissig vom Alter. Aber das Bild in meiner Hand war neu. Es musste neu sein. Denn auf dem Waldboden hockte ein zerlumpter Mann, der mit Eisenketten an einen Baumstamm gefesselt war. Ein Mann, dessen Haare dieselbe Farbe hatten wie meine.
    Ein Mann, dessen Gesicht genauso aussah wie das meines Vaters.
    *
    Steifbeinig stand ich auf und spähte zum Haus hinüber, suchte hinter den Fenstern nach dem Mädchen. Nach ihrer Mutter. Verdammt, in diesem Moment hätte mir schon der fette Junge gereicht. Ich wollte einfach nur irgendjemanden anschreien, bis ich keine Worte mehr in mir hatte. Aber das Haus blieb still, hinter den Fenstern rührte sich nichts.
    Ich hatte den ganzen Tag geschwitzt, nun war ich durstig, und mein gesamter Körper kribbelte vor Hitze. Benommen stolperte ich über das klebrige Gummi und holte mir Wasser aus dem Wagen. Die Sonne ging langsam unter, und mit ihr legten sich auch der Wind und der Staub. Ich wollte unbedingt noch einmal das Foto ansehen. Die Bäume und das Gesicht von meinem alten Herrn. Mit dem Rücken an der Wagenfront ließ ich mich zu Boden gleiten, das heiße Metall verbrannte mir die Haut.
    Mein Waldboden drüben auf dem Feld wirkte holprig und kahl, überhaupt nicht wie der auf dem Bild. Ich starrte auf das Foto. Laub in der Form von Blütenblättern, Äste, die sich wie hölzerne Finger streckten. Und ich starrte auf Pa. Seine Arme waren hinter dem Rücken gefesselt, und sein Blick wirkte weggetreten.
    Er war es, ganz sicher.
    Ich spürte ein dumpfes Ziehen im Magen; all die Gefühle, die ich verdrängt hatte, weil sie zu schmerzhaft gewesen wären. Mein alter Herr war entführt worden. Während eines Staubsturms hatten sie ihn mir einfach weggenommen. Monatelang hatte ich nach ihm gesucht, und fast ein Jahr lang hatte ich befürchtet, er wäre tot. Aber da war er nun, festgehalten auf einem Foto. Gefesselt an ebendas, was er sein Leben lang zu erschaffen versucht hatte.
    Pa hatte mir immer gesagt, es gäbe keine mehr. Keine anderen Wälder als jene, die wir bauen. Keine Blumen, kein Moos, keine Kletterpflanzen. Glaub bloß nicht an irgendwelche Märchen, hatte er gesagt. Mach dir nichts vor.
    Aber nun grübelte ich darüber nach, ob er es nicht besser gewusst und es nur geheim gehalten hatte. War dieses Bild vielleicht älter als ich? Mein gesamtes Leben lang hatte ich versucht, mit diesem Mann Schritt zu halten, und weder er noch ich hatten jemals einen solchen Himmel gesehen – klare Luft ohne Staub, alles strahlend und so verdammt sauber. Aber Pa wirkte auf dem Bild ziemlich alt. Sein Haar hatte weiße Strähnen, und ein feiner Silberton ließ seine Bartstoppeln glänzen. Das Foto war also nach seiner Entführung gemacht worden. Dies war mein Vater, nachdem sie ihn mir gestohlen hatten.
    Ich versuchte herauszufinden, ob auf dem Bild irgendeine Waffe oder vielleicht ein Fremder zu sehen war. Dann suchte ich Pas Körper nach Verletzungen ab. Aber da war nichts. Nur die wundervollen Bäume und mein gefesselter Vater, der dort saß wie jemand, der in eine Falle getappt ist.
    Mein Kopf schmerzte, als hätte ich versucht, zu viel in ihn hineinzustopfen. Ich drehte das Foto um. Auf der Rückseite prangte in violetter Tinte das Logo von GenTech, blass und zerkratzt, aber lesbar. Das verwirrte mich noch
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