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Der dunkle Grenzbezirk

Der dunkle Grenzbezirk

Titel: Der dunkle Grenzbezirk
Autoren: Eric Ambler
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Hand abgebildet war. Ich glaube, ich wollte warten, bis der Regen nachließ. Ich muß wohl ungeduldig geworden sein, denn das nächste, woran ich mich erinnere, ist, daß ich den Scheibenwischer abstellte, als ich die Straße durchs Moor hinauffuhr. Ich weiß ganz genau, daß ich ungefähr fünf Meilen auf dieser Straße gefahren bin. Dann muß ich wohl am Steuer eingenickt sein. Und erst am 26. Mai, also mehr als fünf Wochen später, bin ich wieder zu mir gekommen, und zwar im Expreß Basel-Paris, zwischen Mülheim und Belfort. Ich erinnere mich, daß mir der Zugführer Cognac einflößte. Von dem, was in der Zwischenzeit geschehen ist, weiß ich nichts. Meine Besitztümer am 26. Mai waren die Kleider, die ich trug, meine Brieftasche und mein Paß. Ich habe das Gefühl – könnte es aber nicht beeiden –, als wäre das Bild einer Frau, die ich nicht kenne, in meiner Brieftasche gewesen, als ich diese durchsuchte. Ich habe später weder die Fotografie noch meinen Paß wiedergefunden.*
    Viel ist seit jenem 26. Mai geschehen. Lange Monate war ich sehr krank. Gegen Ende der Rekonvaleszenz in Brighton las ich zum ersten Mal diese Geschichte. Sie hat mich tief beeindruckt. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, seine eigene Biografie zu lesen. In meinem Fall trat an Stelle der Selbstwürdigung ein seltsames Gefühl der Sympathie für diesen wunderlich heiteren Henry Barstow mit seiner Begeisterungsfähigkeit, Eitelkeit, Sentimentalität und seinem melodramatischen Wagemut. Die Bäume vor meinem Schlafzimmer hatten ihre Blätter verloren, die Nächte waren lang, und mein Verstand weilte im Zwielichtland der Genesung. In jener Zeit beschäftigte dieser Mensch mit seiner unglaublichen Geschichte meine Gedanken ununterbrochen. Ich verträumte meine Nächte mit ihm und seiner Gräfin. Doch als ich wieder gesund geworden war, war er verschwunden. Wer weiß, vielleicht geistert er noch immer durch die geheimen Windungen meines Kopfes? Für mich ist er ein Schatten geworden, ohne Züge – wie ein Mann hinter einem Licht.
     
    Henry Barstow
     
    Januar 193–

ERSTER TEIL
    Der Mann, der seine Ansicht änderte

1. Kapitel
    17. April
     
    Gegen halb eins wurde Professor Barstow müde. Er war an diesem Tag schon 180 Meilen gefahren, und er seufzte erleichtert auf, als er ungefähr dreiviertel Stunden später in den Hof des Hotels Royal Crown in Launceston einbog.
    Er stieg aus, streckte sich, drehte mit methodischer Sorgfalt die Zündung ab und schloß auf die gleiche Weise die Türen.
    Professor Barstow tat alles, was er tat, mit methodischer Sorgfalt, ob er nun elektrodynamische Gesetze auf einen Fall elektronischer Abweichung anwendete oder seine blaue Persianerkatze bürstete. Er war die Ordnung in Person. Sein mageres, blasses Gesicht, sein kritisch verzogener Mund und sein sauberer, dunkelgrauer Anzug drückten mit stummer Beredtheit seine Pedanterie aus. Seine Vorlesungen vor der Royal Society waren bekannt und berühmt für ihre leidenschaftslose Darstellung von Tatsachen und die Skepsis gegenüber neuen Erkenntnissen. »Barstow « , so sagte ein berühmter Biologe einmal, » wäre ein wissenschaftliches Genie, wenn er nicht so verflucht wissenschaftlich wäre.« Diese Bemerkung, die kurz nach der Publikation von Professor Barstows kritischer Studie der Lorentz-Transformationen gemacht wurde, war, um es milde auszudrücken, erstaunlich. Die Wahrheit ist wohl die, daß er seiner Phantasie mit tiefem Mißtrauen begegnete, was, ganz wie man’s nimmt, eine gute oder eine schlechte Eigenschaft ist.
    In diesem Moment aber mißtraute er seiner Phantasie noch mehr als gewöhnlich, und zwar, weil sie ihm etwas sagte, was er sich nur ungern eingestand, nämlich, daß er ein kranker Mann war und besser daran täte, ruhig und friedlich in einem Badekurort auf einer Hotelveranda zu sitzen, anstatt am Steuer seines Wagens, und daß Berg- und Talfahrten in rasendem Tempo auf jeden Fall unsinnig seien.
    Kurz entschlossen verjagte er diesen Gedanken, betrat das Hotel und bestellte sich ein gut durchgebratenes Steak. Während er darauf wartete, trank er langsam ein Glas Sherry.
    Es war wirklich schon lange her, seit er das letzte Mal Ferien gemacht hatte. Und dann kamen ihm völlig grundlos längstvergangene Tage in Cambridge in den Sinn, und ein anderer Frühling, wo er drauf und dran gewesen war, seine vielversprechende Karriere als Physiker aufzugeben und sich dem diplomatischen Dienst zuzuwenden.
    Komisch, daß er gerade jetzt daran
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